Krisen-Kontinent: In Südamerika blüht ein Frühling
Der bodenständige Bauer, der mit 14 Jahren noch nicht wusste, was Unterwäsche ist, der vor Kameras Koka-Blätter kaute, der über 13 Jahre Bolivien regierte und das geschafft hat, wonach in Südamerika viele Staaten streben: eine linke Regierung etablieren, die für Stabilität und Wirtschaftswachstum steht.
Nachdem Evo Morales am Sonntag als bolivianischer Präsident zurückgetreten ist, scheint vieles unklar. Steht Südamerika vor einer politischen Wende, einem „Frühling“?
Isoliert betrachtet, kommt der Morales-Rücktritt wenig überraschend. Nach seinem knappen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am 20. Oktober warfen ihm Opposition und internationale Beobachter Wahlbetrug vor.
Unterstützer der eher rechten Oppositionsführer Luis Fernando Camacho und Carlos Mesa lebten ihre Wut auf der Straße aus, krachten mit dem Morales-Lager zusammen. Morales sprach von einem Staatsstreich, stilisierte sich als Opfer, will das politische Bankett wohl auch als gefallener Held verlassen.
Eskalation könnte drohen
„Morales konnte die Macht nicht loslassen. Die Manipulation der Wahlen war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, sagt Lateinamerika-Expertin Claudia Zilla. Nun steht Bolivien vor ungewissen Zeiten. Wer füllt das Machtvakuum? Gibt es Neuwahlen?
„Eine Übergangsregierung ist genauso möglich, wie eine Eskalation der Gewalt zwischen den radikalen Teilen der Opposition und den Morales-Anhängern“, meint Tobias Zortea, Politologe am Lateinamerika-Institut der Universität Wien.
Zortea spricht von einer „gefährlichen Lage“ in Bolivien, einem „Aufstand der von Rechten angeführt wird“. Das erinnert an Brasilien, wo der Rechtspopulist Jair Bolsonaro die Gesellschaft spaltet.
Steht der Kontinent vor einem Rechtsruck?
„In Südamerika gibt es eine grundsätzliche Legitimitätskrise. Weder linke noch rechte Regierungen schaffen es derzeit, den Kontinent zu stabilisieren“, sagt Zortea. Chile, Ecuador, Argentinien oder Peru: In den demokratischen Systemen entfalten sich Proteste entlang wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gräben.
Kein "Arabischer Frühling"
Offene Bürgerkriege seien – anders als in den 1970er-Jahren – laut Zortea in Südamerika heutzutage unwahrscheinlich. Stattdessen organisieren sich Demonstranten über das Internet und gehen auf die Straße.
Das alles erinnert ein wenig an den „ Arabischen Frühling“. Ein Vergleich, den Zilla für unpassend hält: „Während der ’ Arabische Frühling’ in autoritären Staaten entstanden ist, haben wir es in Südamerika – bei allen Defiziten – mit demokratisch legitimierten Regierungen zu tun“ , sagt die Expertin und erwähnt Venezuela als Ausnahme.
„Die Demonstrierenden verwenden natürlich auch soziale Medien, um sich zu organisieren. Aber sie erfahren es genauso aus unabhängigen Zeitungen. Das ist der entscheidende Unterschied.“
Frustrierte Bürger
Zilla sieht gemeinsame Faktoren, die auf alle Krisenherde Südamerikas zutreffen: „Auf dem internationalen Weltmarkt gibt es keinen Rückenwind, die Rohstoffpreise sind nicht mehr so hoch wie zu Zeiten des Commodity Booms. Die Regierungen stehen unter ökonomischem Druck und können keine ausgiebige Sozialpolitik betreiben.“
Diese Faktoren, gemischt mit Korruption und Gewalt – beinahe flächendeckend in der DNA Südamerikas verankert – strapazierten die Geduld der Bürger. Zusätzliche Missstände, die den einzelnen Ländern zu eigen sind, können dann zu Protesten führen: „In Chile stellt die Mehrheit der Bevölkerung das gesamte sozial-ökonomische Modell infrage.“
In Ecuador demonstrieren vor allem indigene Hochlandbewohner gegen die Sparpolitik der Regierung. Und in Bolivien stolperte Kultfigur Morales über Korruption und Wahlmanipulation. Am Montag twitterte er sich noch einmal den Frust von der Seele: „Mesa und Camacho, Unterdrücker und Verschwörer, werden als Rassisten und Putschisten in die Geschichte eingehen.“
Bolivien
Als dienstältester Präsident des Kontinents hat Evo Morales am 10. November seinen Rücktritt angekündigt. Nach der Präsidentenwahl am 20. Oktober warfen die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die EU und Boliviens Opposition Morales Wahlbetrug vor. Anhänger und Gegner demonstrieren seitdem, liefern sich schwere Auseinandersetzungen. Bolivien floriert im Vergleich zu Lateinamerikas anderen Brennpunktländern wirtschaftlich. Machtversessenheit und Korruption wurden der linken Morales-Regierung (vorerst) zum Verhängnis.
Chile
Rund 20 Menschen sind im Andenstaat Chile bei gewalttätigen Ausschreitungen bisher gestorben. Anlass des Aufstandes war eine angekündigte Erhöhung der Fahrpreise für die U-Bahn in der Hauptstadt Santiago. Obwohl Präsident Sebastián Piñera diesen Plan mittlerweile zurückgezogen hat, gehen die Proteste weiter. Die Demonstranten fordern nicht weniger, als die Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftssystem. Der Asien-Pazifik-Gipfel und die Weltklima-Konferenz in Santiago mussten wegen der schweren Unruhen abgesagt werden.
Ecuador
Die Sozialproteste in Ecuador begannen Mitte Oktober. Ausschlaggebend war eine geplante Streichung der Treibstoff-Subventionen, die Sprit um 100 Prozent verteuert hätten. Während die Demonstranten in Chile einen Systemwechsel fordern und führungslos sind, protestieren in Ecuador vor allem Indigenen-Organisationen aus dem Hochland, die von einer Sprit-Verteuerung besonders betroffen wären. Präsident Lenin Moreno hat die Maßnahme zurückgezogen, die Proteste gehen aber weiter – und forderten bereits mehrere Tote.
Argentinien: Unzufriedenheit und Demonstrationen wegen andauernder Finanzkrise – 35,4 Prozent der Menschen leben unter Armutsgrenze;
Bolivarische Republik Venezuela: Weltweit höchste Inflation, extreme Armut, Machtkampf zwischen Präsident Maduro und Interimspräsident Guaidó;
Brasilien: Rechtspopulistischer Präsident Bolsonaro und Abholzung im Amazonasbecken spalten die Gemüter;
Kolumbien: Trotz historischen Friedensabkommens drohen neue Auseinandersetzungen mit Teil der linksgerichteten FARC-Rebellen;
Peru: Wirtschaft boomt, aber Staatskrise wegen anhaltender Korruption;
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