Isoliert betrachtet, kommt der Morales-Rücktritt wenig überraschend. Nach seinem knappen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am 20. Oktober warfen ihm Opposition und internationale Beobachter Wahlbetrug vor.
Unterstützer der eher rechten Oppositionsführer Luis Fernando Camacho und Carlos Mesa lebten ihre Wut auf der Straße aus, krachten mit dem Morales-Lager zusammen. Morales sprach von einem Staatsstreich, stilisierte sich als Opfer, will das politische Bankett wohl auch als gefallener Held verlassen.
„Morales konnte die Macht nicht loslassen. Die Manipulation der
Wahlen war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, sagt Lateinamerika-Expertin Claudia Zilla. Nun steht
Bolivien vor ungewissen Zeiten. Wer füllt das Machtvakuum? Gibt es Neuwahlen?
„Eine Übergangsregierung ist genauso möglich, wie eine Eskalation der Gewalt zwischen den radikalen Teilen der Opposition und den Morales-Anhängern“, meint
Tobias Zortea, Politologe am Lateinamerika-Institut der Universität Wien.
Zortea spricht von einer „gefährlichen Lage“ in Bolivien, einem „Aufstand der von Rechten angeführt wird“. Das erinnert an Brasilien, wo der Rechtspopulist Jair Bolsonaro die Gesellschaft spaltet.
Steht der Kontinent vor einem Rechtsruck?
„In Südamerika gibt es eine grundsätzliche Legitimitätskrise. Weder linke noch rechte Regierungen schaffen es derzeit, den Kontinent zu stabilisieren“, sagt Zortea. Chile, Ecuador, Argentinien oder Peru: In den demokratischen Systemen entfalten sich Proteste entlang wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gräben.
Kein "Arabischer Frühling"
Offene Bürgerkriege seien – anders als in den 1970er-Jahren – laut Zortea in Südamerika heutzutage unwahrscheinlich. Stattdessen organisieren sich Demonstranten über das Internet und gehen auf die Straße.
Das alles erinnert ein wenig an den „
Arabischen Frühling“. Ein Vergleich, den Zilla für unpassend hält: „Während der ’
Arabische Frühling’ in autoritären Staaten entstanden ist, haben wir es in Südamerika – bei allen Defiziten – mit demokratisch legitimierten Regierungen zu tun“ , sagt die Expertin und erwähnt Venezuela als Ausnahme.
„Die Demonstrierenden verwenden natürlich auch soziale Medien, um sich zu organisieren. Aber sie erfahren es genauso aus unabhängigen Zeitungen. Das ist der entscheidende Unterschied.“
Zilla sieht gemeinsame Faktoren, die auf alle Krisenherde Südamerikas zutreffen: „Auf dem internationalen Weltmarkt gibt es keinen Rückenwind, die Rohstoffpreise sind nicht mehr so hoch wie zu Zeiten des Commodity Booms. Die Regierungen stehen unter ökonomischem Druck und können keine ausgiebige Sozialpolitik betreiben.“
Diese Faktoren, gemischt mit Korruption und Gewalt – beinahe flächendeckend in der DNA Südamerikas verankert – strapazierten die Geduld der Bürger. Zusätzliche Missstände, die den einzelnen Ländern zu eigen sind, können dann zu Protesten führen: „In Chile stellt die Mehrheit der Bevölkerung das gesamte sozial-ökonomische Modell infrage.“
In Ecuador demonstrieren vor allem indigene Hochlandbewohner gegen die Sparpolitik der
Regierung. Und in Bolivien stolperte Kultfigur Morales über Korruption und Wahlmanipulation. Am Montag twitterte er sich noch einmal den Frust von der Seele: „Mesa und Camacho, Unterdrücker und Verschwörer, werden als Rassisten und Putschisten in die Geschichte eingehen.“
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