Kamikaze-Drohnen in Kiew + Russische Probleme mit dem Nachschub
Tag 236 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Wie schon in der Woche zuvor, hat Russland auch am Montag mehrere Regionen in der Ukraine beschossen. So ist das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew Montag früh erneut von Explosionen erschüttert worden. In sozialen Netzwerken sind Videos zu sehen, auf denen über der Hauptstadt Kiew Rauchwolken zu sehen ist. Am Himmel sei ein Feuerball zu sehen gewesen, berichtete eine Reporterin aus dem Zentrum.
Berichte über weiteren Beschuss gab aus den Gebieten Sumy, Dnipropetrowsk und Odessa. Kremlnahe russische Militärblogger berichten, dass insbesondere Energieinfrastruktur des Landes angegriffen wurde. Die schwersten Kämpfe fänden nördlich von Bachmut statt.
Laut Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko gab esin Kiew drei Explosionen, eine davon im Innenstadtbezirk Schewtschenkiwskyj. Die Menschen wurden aufgerufen, unbedingt in den Schutzbunkern zu bleiben. Klitschko sprach von einem Drohnenangriff auf die Hauptstadt - und veröffentlichte dazu auch ein Foto von Resten einer Drohne in seinem Kanal im Nachrichtendienst Telegram.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hat die neuen russischen Angriffe als Terror gegen die Zivilbevölkerung verurteilt. "Der Feind kann unsere Städte angreifen, aber er wird uns nicht brechen", so Selenskij via Telegram.
Probleme mit dem Nachschub
Die Nachschubprobleme der russischen Truppen im Süden der Ukraine haben sich nach Einschätzung des britischen Geheimdienstes infolge der Explosion auf der Krim-Brücke am 8. Oktober verschärft.
Die Versorgungswege durch die Krim seien schwierig, die Lage der russischen Truppen in der gegenüberliegenden südukrainischen Region Cherson sei angespannt. Daher werde die Versorgung auf dem Landweg durch die Region Saporischschja immer wichtiger, twitterte das britische Verteidigungsministeriums aus dem aktuellen Geheimdienstbericht am Montag. Die russischen Truppen in der Südukraine würden vermutlich jetzt ihren Nachschub über die Hafenstadt Mariupol verstärken.
Frontlinie verschiebt sich ständig
Ukrainischen Truppen haben nach Angaben des Generalstabs in den vergangenen 24 Stunden russische Vorstöße auf die Städte Torske und Sprine zurückgeschlagen. „(Die Russen) haben beschlossen, durch Torske und Sprine zu ziehen.“ Die Frontlinie verschiebe sich ständig.
„Unser Kommando verlegt Verstärkungen dorthin, Männer und Artillerie, um der russischen Überlegenheit in diesen Gebieten zu begegnen", schrieb der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow.
AKW Saporischschja vom Netz genommen
Das von Russland besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja ist erneut von externer Stromversorgung abgeschnitten worden. Diese ist extrem wichtig für die Kühlung der Brennstäbe. Der ukrainische Kraftwerksbetreiber Enerhoatom teilte am Montag mit, dass in der Nacht die letzte Verbindungsleitung „infolge des Beschusses durch das russische Militär“ wieder getrennt worden sei. Als Ersatz seien Dieselgeneratoren in Betrieb genommen worden.
Russland kontrolliert das größte Atomkraftwerk Europas faktisch seit Anfang März, als Moskaus Truppen im Zuge des Angriffskriegs große Teile der Südukraine besetzten. Das AKW ist in den vergangenen Monaten bei schweren Kämpfen mehrfach unter Beschuss geraten. Die Ukraine und Russland geben sich gegenseitig die Schuld.
Enerhoatom warf Russland am Montag vor, „die Ukraine und die ganze Welt durch Raketenangriffe“ zu erpressen. „Wir appellieren erneut an die internationale Gemeinschaft, unverzüglich Maßnahmen zur baldigen Entmilitarisierung des Atomkraftwerks Saporischschja zu ergreifen“, teilte der Kraftwerksbetreiber mit. Das russische Militär müsse abziehen aus der Anlage und der Stadt Enerhodar und das AKW wieder unter die volle Kontrolle der Ukraine geben - „aus Gründen der Sicherheit für die ganze Welt“.
Moskau will militärische "Operation" zu Ende bringen
Rund acht Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine will Russland trotz militärischer Rückschläge seine Kriegsziele unbeirrt weiterverfolgen. Die militärische "Operation" werde zu Ende gebracht, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Sonntag im Staatsfernsehen. Das werde zwar erschwert von der Hilfe westlicher Staaten für die Ukraine. Aber Russland habe genug Potenzial zur Fortsetzung des Einsatzes. Er sagte, die NATO sei "de facto" schon in den Konflikt involviert.
Mangott über Russlands Strategie
Der Politikwissenschafter Gerhard Mangott glaubt, dass die russischen Streitkräfte ihre Raketenangriffe auf kritische Infrastruktur in der Ukraine weiter fortsetzen werden. Russland wolle dadurch einerseits die Ukraine unter Druck setzen, anderseits aber auch die Europäische Union, indem es darauf setze, dass diese Angriffe eine neue Flüchtlingswelle auslösen, so der Russland-Experte am Sonntag im Zib2-Interview.
Putin habe die Bombardierungen auf Druck der rechten Nationalisten angeordnet, die ihm vorwerfen, dass er den Krieg in der Ukraine zu zögerlich führe. Zudem könne so auch die ukrainische Wirtschaft weiter geschädigt werden, so der Russland-Experte. Die ukrainische Wirtschaft sei heuer schon um 35 Prozent eingebrochen, weitere Schäden an der Infrastruktur und der Mangel an Arbeitskräften, ausgelöst durch neue Fluchtbewegungen, würden die Wirtschaft nur weiter schädigen, zeigt sich Mangott überzeugt. Dennoch sei die Moral in der Ukraine sehr hoch.
Russland-Experte Mangott zur Kriegslage
Rotes Kreuz wehrt sich gegen Kritik
Das Rote Kreuz wehrte sich unterdessen gegen Kritik aus Kiew, dass es zahlreiche Kriegsgefangene noch nicht besucht hat. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskij hatte zuletzt umgehende Besuche verlangt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sei dazu moralisch verpflichtet. Dieses teilte am Sonntagabend mit: "Es hilft weder den Kriegsgefangenen noch ihren Familien, wenn dem IKRK die Schuld dafür gegeben wird, dass ihm der uneingeschränkte und sofortige Zugang verweigert wird."
Elf Mitarbeiter, darunter ein Arzt, stünden in der von Russland besetzten Region Donezk für solche Besuche bereit, hätten aber bisher keine Erlaubnis erhalten. Diese müsse von den beteiligten Staaten kommen. Sie seien nach den Genfer Konventionen verpflichtet, dem IKRK Zugang zu gewähren. Das IKRK verlange seit fast acht Monaten vergeblich, sämtliche Orte, an denen Kriegsgefangene interniert seien - darunter das Gefangenenlager Oleniwka - ungehindert und regelmäßig besuchen zu können.
"Kriegsgefangene und ihre Familien verdienen diesen Hoffnungsschimmer und die Menschlichkeit in den Qualen eines bewaffneten Konflikts", teilte das IKRK mit. "Unsere Entschlossenheit ist ungebrochen. Wir werden niemals aufhören, Zugang zu Kriegsgefangenen zu fordern, bis wir sie alle nicht nur einmal, sondern wiederholt sehen können, wo auch immer sie festgehalten werden."
Am Freitag hatte das IKRK berichtet, dass es hunderte Kriegsgefangene auf beiden Seiten gesehen habe, aber vermutlich tausende weitere nicht. Es appellierte an beide Seiten, Russland und die Ukraine, diese Besuche zu ermöglichen.
Oleniwka liegt auf russisch besetztem Gebiet in Donezk. Wie viele Menschen dort festgehalten werden, ist unklar. Im Juli waren dort mehr als 50 Gefangene bei einer Explosion getötet worden. Russland und die Ukraine geben sich gegenseitig die Schuld daran.
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