Seehofer und Merkel wenden Koalitionskollaps ab

Seehofer und Merkel wenden Koalitionskollaps ab
Montagabend einigten sich CDU/CSU doch auf einen Kompromiss: Transitzentren an der Grenze zu Österreich. SPD zeigt sich abwartend.

Verhandlungen bis spät in die Nacht, gar ins Morgengrauen – und am Ende dennoch alles offen. Was sich seit der Bundestagswahl in Deutschland abspielt, wird in die Annalen eingehen. Noch nie kam eine Regierung so schwer zustande, noch nie stand sie so knapp an der Kippe.

Die Hauptprotagonisten des jüngsten Dramas: Kanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer. Nach wochenlangem Streit um die künftige Asylpolitik, ließ er die Lage Sonntagnacht eskalieren, drohte mit Rücktritt, zog ihn dann zurück, um ihn von Gesprächen mit der CDU abhängig zu machen. Nun folgte überraschend ein Kompromiss. Aber alles der Reihe nach.

Montagfrüh, der Morgen nach Seehofers Drohung: Ein Termin jagt den anderen, die Grünen melden sich zu Wort, Linke, AfD und FDP, ebenso wie Politexperten: Was in aller Welt trieb Seehofer an, dass er quasi gegen jede Vernunft handelte? Seine Zukunft und jene der Regierung an einem Punkt aus seinem Masterplan festmachte?

 

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Darüber ärgerte man sich in CDU und CSU, dennoch lautete der Tenor nach einer gemeinsamen Sitzung: Man wolle eine Lösung finden. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) schaltete sich ein, rief die Streithähne zu sich.

Gegen 18 Uhr fuhr Seehofers Wagen vor der CDU-Zentrale vor, langsam stieg er aus dem Auto, das Gesicht fahl, die Augen müde. Er lächelte gequält: „Ich hoffe, ich komme vor dem Morgengrauen raus“, sagte er den wartenden Journalisten. Um Deeskalation war er an diesem Tag nicht bemüht. Stunden zuvor ließ er via Süddeutsche Zeitung ausrichten: „Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist.“ Damit bezog er sich auf das bessere Wahlergebnis der CSU bei der Bundestagswahl sowie die mühsamen Koalitionsverhandlungen, die sie Seite an Seite durchgestanden haben.

Dass sie künftig noch gemeinsam etwas durchstehen, scheint zu diesem Zeitpunkt aussichtslos.

Die Wende

Dann kurz nach 22 Uhr die Wende. Horst Seehofer wankt aus der CDU-Zentrale, er wirkt abgekämpft, fast ein bisschen ferngesteuert. „Wir haben uns geeinigt“, verkündet er. "Wir haben eine klare Vereinbarung, wie wir die illegale Migration in der Zukunft an den Grenzen zwischen Deutschland und Österreich verhindern", sagte Seehofer, umringt von seinen Ministern, darunter auch der ehemalige bayerische Landeschef Edmund Stoiber. Nicht wenige hier glauben, dass er es war, der die zerstrittenen Parteien wieder zur Räson brachte. Er steigt mit der Seehofer und Co. in den Wagen. Es steht noch ein weiterer später Termin mit der SPD an. Und Seehofer wird ihn mit verhandeln, denn: Er will weiter im Amt bleiben. Auch die Zukunft der Kanzlerin ist scheint vorerst gerettet, wobei es Gerüchte gibt, sie würde ihm Herbst zurücktreten. Wolfgang Schäuble könnte interimistisch übernehmen.

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Transitzentren

Davon war gestern im Adenauer-Haus aber keine Rede. Schnellen Schrittes eilt Merkel vor die Presse und zum Mikro. Nach hartem Ringen habe man sich geeinigt, verkündete sie. Der Formelkompromiss lautet: Transitzentren an der deutsch-österreichischen Grenze. Aus diesen Zentren sollen die Asylbewerber direkt in die zuständigen Länder zurückgewiesen werden, wo sie erstregistriert wurden. Mit einigen dieser Länder habe Merkel auch Vereinbarungen getroffen. In den Fällen, in denen es kein Verwaltungsabkommen gibt, findet die Zurückweisung an der deutsch-österreichischen Grenze statt. Ob die Maßnahmen mit der österreichischen Regierung abgesprochen wurden, war bis gestern Abend noch unklar.

 

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Es sind Maßnahmen, die auf Seehofers Masterplan aufbauen. Also jenem Papier, das zum Streit geführt hat. Bis auf einen Punkt war die Kanzlerin mit allem einverstanden: Die Abweisung Asylsuchender an der deutschen Grenze lehnte sie ab. Nicht aus Herzensgüte, sondern weil sie das große Ganze sieht: Chaos in Europa. Dieses wäre nun scheinbar mit den Transitzentren abgewendet, zeigte sich Merkel zufrieden. „Damit ist genau der Geist der Partnerschaft in der EU gewahrt und gleichzeitig ein entscheidender Schritt getan, um Sekundärmigration zu ordnen und zu steuern. Das ist genau das, was mir wichtig war und ist“.

So weit, so einfach. Oder doch nicht? Immerhin muss die SPD dem Kompromiss zustimmen, der eigentlich ein alter ist. Die Sozialdemokraten hatten sich bereits 2015 gegen solche Zentren gewehrt. Klingt nach weiteren langen Verhandlungen.

SPD hat "noch viele Fragen"

SPD-Parteichefin Andrea Nahles äußerte sich nach einem nächtlichen Treffen der Koalitionsspitzen im Kanzleramt zurückhaltend. "Wir haben das heute nur andiskutiert", sagte sie. Es gebe da noch "viele Fragen", so die Vorsitzende.

Die Fraktionen von Union und SPD kommen am Dienstagmorgen um 08.30 Uhr jeweils zu Sondersitzungen zusammen, um über den Kompromiss zu beraten. Die Spitzen der Koalitionsparteien wollen dann ab 18.00 Uhr erneut im Kanzleramt darüber diskutieren, wie Nahles in der Nacht auf Dienstag mitteilte.

Stefan Aust, "Die Welt", zu den Chaostagen in Berlin

CSU sieht "Asylwende"

Aus Sicht der CSU ist die Einigung im Unionsstreit um den Umgang mit bereits in anderen EU-Staaten registrierten Asylbewerbern der letzte Baustein "hin zu einer Asylwende". "Für die CSU ist das ein wichtiger Tag für Deutschland, aber auch für die Union", sagte CSU-Generalsekretär Markus Blume am Montagabend in Berlin.

Asylbewerber würden aus den geplanten Transitzentren direkt in EU-Staaten abgeschoben, wo sie bereits registriert sind - wenn es entsprechende Abkommen mit den Ländern gebe, so Blume. Für alle anderen Fälle plane man ein Abkommen mit der Republik Österreich, wie diese Menschen schon grenznah abgewiesen werden könnten. Blume sprach von einem wichtigen Schlussstein hin zu einer restriktiveren Asylpolitik. "Die Sicherheit unseres Landes beginnt an der Grenze", sagte er.

Bilder: Seehofers politische Karriere

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Noch vor wenigen Tagen hatte Seehofer erklärt, er wolle seine Ämter so lange ausüben, wie er noch etwas bewegen könne und solange es Spaß mache. Seither scheint etwas geschehen zu sein.

Wer Seehofer in den vergangenen Wochen aus der Nähe beobachtet hat, erlebte einen Mann, der sich nach seinem Gang in die Bundespolitik sehr verändert hat - auch körperlich wirkte er zuletzt angegriffen. Nichts erinnerte inmitten der politischen Wirren an den Seehofer, der vor etwas mehr als 100 Tagen München verlassen hatte. "Sie sehen einen entspannten, gelassenen Menschen des Jahrgangs 1949", pflegte er in seiner bayerischen Heimat auch bei schweren Machtkämpfen zu sagen.
 

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Und doch scheint er dem Prinzip treu zu bleiben: "Ich bin ein freier Mensch, und als solcher agiere ich auch. Ohne Ängste oder Albträume." Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Schon das Ende seiner Ministerpräsidentenzeit ließ bei Seehofer auch Wehmut aufkommen. Und vermutlich dürfte er bei seiner Entscheidungsfindung auch an den Satz gedacht haben, er wolle in den CSU-Geschichtsbüchern nicht als derjenige stehen, der vom Hof gejagt wurde.

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Dabei kann Seehofer auf eine ungewöhnliche Karriere mit einer großen Ämterfülle verweisen: In seinen mehr als 45 Jahren in der Politik hat er viele Schlachten geschlagen. Oft war er es, der seine Gegner in die Ecke trieb und Positionen rigoros durchboxte. 28 Jahre im Bundestag, 12 Jahre als Staatssekretär und Bundesminister, 10 Jahre als Ministerpräsident und seit 2008 als Parteichef.
 

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Dafür zahlte Seehofer einen hohen Preis: "Ich gehe ständig an die Grenze dessen, was man sich körperlich zumuten kann", sagte er. Privat habe er kaum Zeit für Freunde, Familie oder Hobbys. 2002 erlitt er eine Herzmuskelentzündung, die ihn fast das Leben kostete.

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Ernennung, Entlassung und Rücktritt von Bundesministern sind in Deutschland im Grundgesetz sowie im Bundesministergesetz geregelt. Dabei wird formaljuristisch kein Unterschied zwischen einem freiwilligen Rücktritt und einer Entlassung gemacht.

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"Die Bundesminister können jederzeit entlassen werden und ihre Entlassung jederzeit verlangen", heißt es im Bundesministergesetz. Das Grundgesetz regelt in Artikel 64: "Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen."

 

Keine zusätzlichen Grenzkontrollen beabsichtigt

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet setzt nach der Einigung auf eine erneute Annäherung an die Schwesterpartei CSU. "Die Einheit der Union ist ein so hohes Gut, da muss man auch Kompromisse machen", so Laschet. Auf die Frage, ob auch über eine Ausweitung der Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze gesprochen worden sei, sagte er: "Nein, das ist nicht beabsichtigt."

Die nun erzielte Verständigung sieht neben der Einrichtung von Transitzentren an der deutsch-österreichischen Grenze auch Zurückweisungen auf der Grundlage von Verwaltungsabkommen mit anderen Ländern vor. CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer beurteilte dies als eine Lösung, mit der "in hervorragender Weise" die Migration nach Deutschland begrenzt werden könne.

Doskozil sieht "einseitige Belastung"

Für den ehemalige österreichischen Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) stellt der innerparteiliche Kompromiss der Union jedoch "eine einseitige Belastung für Österreich" dar. "Da davon auszugehen ist, dass Deutschland mit einigen Ländern kein Verwaltungsabkommen abschließen wird, würde in diesem Fall Deutschland alle Zurückweisungen nach Österreich durchführen", sagte Doskozil. Dies sei inakzeptabel. Er rief die Bundesregierung auf, gegen die geplante deutsche Vorgangsweise mit Asyl-Transitzentren an der Grenze zu Österreich vorzugehen, und forderte eine europäische Lösung und einen starken Außengrenzschutz.

CSU-Vize Manfred Weber sieht hingegen bereits durch den Kraftakt von CDU und CSU eine grundlegende Verbesserung in der Zuwanderungspolitik in Europa. "Wir haben in der EU eine neue Balance hin zu einer besseren Migrationspolitik durchgesetzt. Das war ein großer Schritt", sagte der Fraktionschef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament der Deutschen Presse-Agentur in München. Jetzt gebe es dank des guten Kompromisses eine gelungene Einigung zwischen CDU und CSU mit nationalen und europäischen Maßnahmen, um die Migration effizient zu steuern und zu ordnen.

Kritik von deutscher Opposition

Die Opposition und die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisierten die Beschlüsse scharf. Als "Schmiermittel" für einen Verbleib Seehofers im Amt "Internierungslager" einzurichten, "verschiebt den Wertekompass unseres Landes massiv", sagte die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock der Nachrichtenagentur AFP. Die Linken-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger erklärten, Merkel belohne nach Seehofers Rücktritt vom Rücktritt "das Schmierentheater der CSU mit weiteren Zugeständnissen und rückt damit die Politik weiter nach rechts".

Für FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann ist aufgrund der noch zu verhandelnden Abkommen mit anderen Staaten die Wirkung der Vereinbarung fraglich. "Möglicherweise ist der Konflikt in der Union also nur aufgeschoben statt aufgehoben", sagte er AFP. Der bayerische AfD-Landesvorsitzende Martin Sichert warf der CSU vor, im Asylstreit mit Merkel eingeknickt zu sein.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnete den Kompromiss der Unionsparteien als "Einigung auf dem Rücken von Schutzbedürftigen". "Faire und rechtsstaatliche Asylverfahren gibt es nicht in Haftlagern", sagte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt in Bezug auf die geplanten Transitzentren.

 

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