Der katalanische Traum

Hunderttausende Katalanen wollen unabhängig werden und rufen zum Protest gegen Spanien – auch in Wien.

Es ist eine bunte Gruppe, die sich vor dem Wiener Riesenrad eingefunden hat. In gelb-rot-blaue Fahnen gehüllt, manche im FC Barcelona-Shirt, stehen sie aufgereiht in der Form des Buchstaben V.

V wie Victoria, Sieg. Oder auch V wie votar, wählen. "Wir Katalanen wollen über unsere Zukunft abstimmen", erklärt der Sprecher der etwa 50 Demonstranten, Daniel Teixidor. Der Architekt wohnt seit vier Jahren in Österreich, hat hier Arbeit, Familie, Freunde. Dennoch trotzt er dem nassen Spätsommerwetter, um auf die Unabhängigkeitsbewegung in seiner Heimat aufmerksam zu machen. Und diese ist Katalonien – auch wenn sein Pass ein spanischer ist.

Proteste

Der katalanische Traum
So wie hier protestieren Katalanen dieser Tage in ganz Europa. Sie wollen den Druck auf die spanische Regierung erhöhen. Diese hat das für 9. November geplante Referendum über dieUnabhängigkeit als verfassungswidrig bezeichnet und verboten. Katalonien hingegen beharrt auf die Befragung seiner Bürger. Die größte Demonstration ist in Barcelona geplant, der Hauptstadt der autonomen Region Katalonien. Oder auch des Landes Katalonien, wenn man besonders patriotische Einwohner fragt. Am Donnerstag, dem Nationalfeiertag, werden zwei riesige Boulevards für die Proteste gesperrt – von oben sollen die Menschenmassen wie ein enormes V aussehen. 400.000 wollen kommen: Ein deutliches Signal an Madrid.

Neo-Wiener auf Mission

In Wien ist das V bescheidener ausgefallen. Die Forderungen sind nicht minder laut. Denn der 35-jährige Daniel Teixidor hat eine Mission: "Die Österreicher sollen erfahren, warum wir unabhängig werden wollen." Dafür verfasst er Flyer, organisiert Kampagnen. Der dunkelhaarige, in Barcelona geborene Neo-Wiener ist Mitglied der katalanischen Nationalversammlung, einer überparteilichen und europaweiten Bürgerbewegung für die Unabhängigkeit. Bei ihm zu Hause wurde nur katalanisch gesprochen, spanisch lernte er erst im Kindergarten. "Spanisch ist eine fantastische Sprache. Aber es ist nicht meine Sprache. Wenn ich denke, wenn ich träume, dann tue ich das in katalanisch." Für die Katalanen ist die Sprache ein großer Bestandteil ihrer Identität, der sie auch von den Spaniern unterscheidet. Schließlich "sind wir gemeinsam sozialisiert", erklärt Teixidor. Und der Aktivist hat genauso spanische Freunde: "Ich kann mit ihnen über alles reden". Dann fügt er hinzu: "Außer über Politik."

Ist Katalonien eine Nation? Für Premier Mariano Rajoy gibt es auf diese Frage nur ein Nein: "Katalonien ohne Spanien ist unvorstellbar." Sein katalanischer Kollege Artur Mas hingegen bejaht: "Wir sind schon seit tausend Jahren eine eigene Nation." Das Klima zwischen den Beiden kühlte zuletzt deutlich ab. Auslöser waren die gescheiterten Verhandlungen über einen Fiskalpakt. Weniger Steuern – das wollte Mas für die wirtschaftsstarke, aber von der Krise mitgenommene Region. Rajoy erteilte den Wünschen eine deutliche Absage.

Angst vor Dominoeffekt

Das jetzige Referendum lehnt er ebenso ab. Das hat viele Gründe: Ein Fünftel des spanischen BIP wird dort erwirtschaftet, außerdem ein Viertel der Exporte. Und ein Dominoeffekt ist nicht auszuschließen: Auch im Baskenland kämpfen Separatisten für eine Loslösung. Die Vorstellung eines Staates Katalonien will in Madrid daher niemand zu Ende denken.Je ablehnender die Zentralregierung, desto stärker wächst der Zuspruch für die Abspaltung. Auch so mancher unpolitische Katalane in seinem Freundeskreis wurde zum Unabhängigkeitsbefürworter, erzählt Teixidor. "Jeder von uns hat schon mal blöde Sprüche von einem Spanier gehört", sagt er. "Wir haben die Bevormundung einfach satt."

Nicht alle für Unabhängigkeit

Es sind aber nicht alle Katalanen von den Entwicklungen begeistert. Schließlich bedeutet eine Abspaltung auch den Austritt aus der EU, mit enormen wirtschaftlichen Folgen. Manche befürworten eine Kompromisslösung, beispielsweise mehr Autonomie und eine eigene Finanzverwaltung. Viele sehen sich auch nicht als Katalanen oder Spanier, sondern fühlen sich beidem zugehörig. Beim Referendum gehe es daher auch darum, ein Stimmungsbild zu erfassen, wie viele denn unabhängig sein wollen, sagt Albert Royo, Chef bei der katalanischen Regierungsorganisation Public Diplomacy Council.

Die Umfragen sprechen hierzu keine klare Sprache. So würden 60 Prozent für die Loslösung stimmen, wenn man das Meinungsforschungszentrum der katalanischen Regierung fragt. Die in Madrid ansässige konservative Tageszeitung El Mundo hingegen gibt die Zahl der Befürworter mit 34 Prozent aus. Für die Demonstranten im Wiener Prater ist die Unabhängigkeit ein ersehnter, aber ferner Traum. "Wenn Katalonien unabhängig wird, wäre das ein einzigartiger Moment in der Geschichte", sagt Teixidor und lächelt. "Dafür würde ich auch nach Barcelona zurückkehren."

Die autonome Region im Nordosten Spaniens hat 7,5 Mio. Einwohner. Seit 1714 gehört Katalonien, ehemals Teil der Krone von Aragón, zu Spanien. Der Tag der Niederlage, der 11. September, ist heute katalanischer Nationalfeiertag. Katalonien hat eine eigene Regionalregierung, Verwaltung und Polizei. Acht Prozent des BIP muss die Region an Madrid abgeben.

Am 9. November soll per Abstimmung entschieden werden, ob die Mehrheit der Katalanen für eine Unabhängigkeit ist. Madrid untersagt diese Volksbefragung.

Es fällt schwer, sich der Begeisterung zu entziehen, die in Schottland und der spanischen Region Katalonien weite Teile der Bevölkerung erfasst hat. Ein eigener Staat, die Loslösung von einem traditionell ungeliebten Mutterland, ist auf einmal zum Greifen nahe. In Schottland stimmt man kommende Woche (zum Artikel), in Katalonien aller Erwartung nach im November, über die Unabhängigkeit ab. Da schwenken auf einmal junge Leute Nationalflaggen, stimmen auf der Straße Hymnen an und begeistern sich für eine politische Idee – und die ist natürlich bestechend simpel. Die Grenze, die man um die neue Heimat ziehen will, ist nicht nur eine Möglichkeit, die eigene, vielleicht bisher recht wackelige Identität auf einen Sockel zu stellen, sondern scheinbar auch alle Schwierigkeiten – ob wirtschaftlich oder politisch – dahinter abzulagern. Für all das kann man auf einmal die anderen, jenseits der Grenze verantwortlich machen

Ist es nicht das gierige, und obendrein rechts der Mitte regierte London, das den Ölreichtum der Schotten anzapft, das faule, bürokratische Madrid, das dem arbeitsamen Katalonien die Steuerschrauben anzieht? So leicht funktionieren auf einmal Schuldzuschreibungen. Doch nur solange, bis die tatsächlich zum Ziel führen – und diese Regionen auf einmal als Staat dastehen. Dann gibt es kein London mehr, das für Schottlands krasse soziale Gegensätze verantwortlich gemacht werden kann, für seine oft veraltete, nicht konkurrenzfähige Industrie, kein Madrid, dem man die Schuld für Kataloniens kollabierendes Bankensystem geben kann. Eine Grenze, irgendwoher aus der Geschichte herbeizuzaubern, löst keine Probleme, sie ist oft nur ein billiger Vorwand, um mit Vorurteilen Politik zu machen.

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