Kanzler Kern erhöht Druck für dichte EU-Außengrenzen

Zuletzt traf man einander vor einer Woche in Bratislava: Orban, Merkel und Kern, diesmal Gastgeber.
Das Wiener Treffen von Bundeskanzler Kern mit den Regierungschefs der Nachbarstaaten soll Start einer besser funktionierenden Migrationspolitik der EU sein.

Überfüllte Flüchtlingslager auf griechischen Inseln, hohe Grenzzäune, Abschiebungen, misshandelte Asylsuchende in Ungarn und Gefängnisstrafen: Die Staaten entlang der Balkanroute haben sich längst abgeschottet. Jedes Land macht, was es will, um Schutzsuchende abzuhalten.

Kanzler Kern erhöht Druck für dichte EU-Außengrenzen
BeimFlüchtlingsgipfel heute, Samstag, in Wien, geht es Gastgeber Christian Kern darum, "gemeinsame Lösungen" zu finden und weg von einem Patchwork in der Migrationspolitik zu kommen. Der österreichische Bundeskanzler hat die Amtskollegen aus Ost- und Südosteuropa plus die deutsche Kanzlerin sowie die EU-Spitzen, Ratspräsident Donald Tusk und Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos, eingeladen.

Illegale stoppen

Ziel des Wiener Gipfels ist, "die Maßnahmen für eine sichere EU-Außengrenze rascher als bisher umzusetzen, um den Zustrom illegaler Migranten zu stoppen", heißt es im Büro des Kanzlers.

Die Angst geht um, dass der Flüchtlingsandrang wieder stärker wird, in Griechenland kommen wieder mehr Migranten aus der Türkei an, und viele Schlepper haben neuerdings Ägypten als Ausgangspunkt für ihre gefährliche Route über das Mittelmeer entdeckt (siehe Seite 5).

Mit Spannung wird erwartet, was Avramopoulos zur Forderung von Kanzler Kern sagt, einen Flüchtlingsdeal mit Ägypten abzuschließen, ähnlich dem Abkommen mit der Türkei. Teil der Vereinbarung mit Ankara sind EU-Gelder in Höhe bis zu sechs Milliarden Euro als Unterstützung für die Aufnahme von fast drei Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge.

Diese Summe wird die EU nicht mehr aufbringen können. Ägypten ist bereits Nutznießer von EU-Hilfen. Als Mitglied der EU-Nachbarschaftspolitik flossen in den vergangenen Jahren fünf Milliarden Euro in das Land am Nil, um rechtsstaatliche und demokratische Strukturen aufzubauen.

Im Fokus stehen heute der griechische Premier Alexis Tsipras und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Beide Länder nehmen von EU-Partnern keine Flüchtlinge zurück. Im Falle Griechenlands haben der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits im Jahre 2011 schwere Mängel im Asylverfahren festgestellt.

Ungarn im Visier

Budapest lehnt eine Rückübernahme sogenannter Dublin-Fälle kategorisch ab. Darunter versteht man Flüchtlinge, die als erstes in Ungarn angekommen und registriert worden, dann aber weitergezogen sind. Menschenrechtsorganisationen beklagen seit Langem, dass Asylsuchende in Ungarn nicht sicher sind.

Die EU-Kommission, aber auch die Mitgliedsländer wollen jetzt klare Verhältnisse schaffen. Deutschland plant ab Jänner 2017 Flüchtlinge zurück nach Griechenland zu schicken. "EU-Regeln müssen eingehalten werden, um die Grenzkontrollen langsam abbauen zu können", gibt ein EU-Diplomat das Ziel des Wien-Gipfels vor.

KURIER-Tag der Offenen Tür – und die Sicherheitsminister von SPÖ und ÖVP, Hans Peter Doskozil (Verteidigung) und Wolfgang Sobotka (Inneres), diskutieren ungewöhnlich harmonisch über „Asyl- und Flüchtlingspolitik“.

Selbst bei der in der Koalition umstrittenen Frage der Deckelung der Mindestsicherung für Asylwerber gibt es keine gröberen Differenzen. „Ich will mich ja nicht in die Agenden meines Kollegen einmischen“, sagte Doskozil, regte insgesamt aber eine „Hinterfragung und Reform der Grundversorgung bis hin zur Integration der anerkannten Asylwerber in den Arbeitsmarkt“ an.

Auf die Publikumsfrage, wann die Asyl-Notverordnung in Kraft gesetzt werde, gab der Innenminister keine konkrete Antwort. Nur so viel: „Sonderverordnung“, korrigierte Sobotka. Bis Oktober laufe noch die Begutachtung der Gesetzesvorlage. Er hoffe allerdings, dass der Flüchtlingsandrang nicht zunehme und somit die Grundlage für die Verordnung wegfalle.

Rascher abschieben

Ein Anliegen ist beiden Politikern, dass abgewiesene Asylwerber und illegale Flüchtlinge rasch in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden. Auch wenn die Abschiebequote in diesem Jahr 30 Prozent höher liegt als im Jahr 2015 – angeblich verlassen drei Chartermaschinen wöchentlich Österreich – interessierte die KURIER-Leser die Frage, was mit Flüchtlingen passiert, die nicht abgeschoben werden und irgendwo verschwinden. Als letzte Option sieht Innenminister Sobotka „Sanktionen. Auch ein Freiheitsentzug sei möglich“. Dafür müsse Österreich aber erst die gesetzlichen Grundlagen schaffen.

Zufrieden zeigten sich die Teilnehmer über höhere Budgetmittel für das Bundesheer und eine bessere technische Ausstattung. Dafür applaudierte das Publikum. Die Anregung, doch ein Berufsheer zu schaffen, wies Doskozil zurück: „Ich bin überzeugt, dass ein System mit Grundwehrdienern besser ist.“

Die Minister verlangten, dass die EU in der Flüchtlingspolitik und bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik schneller zu Ergebnissen kommen müsse. Eine sichere und streng kontrollierte EU-Außengrenze und Maßnahmen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge (Wirtschaftshilfe und Flüchtlingslager, wo geprüft wird, ob Asylgründe gegeben sind) seien dringend. „Die EU ist viel zu langsam und träge. Das ist meine Kritik an der EU“, bekannte der Verteidigungsminister erfrischend.

In den vergangenen zwei Wochen stoppte die ägyptische Polizei fünf Flüchtlingsboote auf dem Weg nach Europa, insgesamt waren 900 Menschen an Bord. Ein weiteres Boot sank diesen Mittwoch, mindestens 112 Menschen starben. Die EU sieht sich angesichts dieser Zahlen in ihren Befürchtungen bestätigt, dass sich neben Libyen in Ägypten ein zweites großes „Tor“ von Afrika nach Europa auftun könnte. Wie bereits Bundeskanzler Christian Kern am Montag forderte daher nun auch der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, ein Flüchtlingsabkommen mit Ägypten, ähnlich dem mit der Türkei.

Bisher stand Brüssel diesem Ansinnen ablehnend gegenüber, herrscht in Ägypten doch ein autoritäres Regime. Doch der Druck steigt. Laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex kommt bereits jeder zehnte Bootsflüchtling über Ägypten nach Europa. In den ersten neun Monaten 2016 waren das mehr als 12.000 Menschen, um 5000 Personen mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Überfahrt dauert zehn TageÜber die sogenannte „Zentrale Mittelmeerroute“ mit Ausgangspunkt Libyen kamen im gesamten Vorjahr gut 140.000 Menschen. Diese Zahl dürfte heuer auf bis zu 300.000 steigen – ebenso, wie die Zahl der Überfahrten von Ägypten aus. Das hat mehrere Gründe. Einer ist der Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei: Migranten aus Nahost, die noch im Vorjahr illegal über die Türkei eingereist wären, kommen dieses Jahr über Nordafrika. Angesichts der extrem unübersichtlichen und gefährlichen Lage in Libyen nehmen aber viele mittlerweile die gefährlichere Überfahrt aus Ägypten auf sich. Diese dauert bis zu zehn Tage, während Flüchtlinge aus Libyen meist nach wenigen Stunden von EU-Patrouillenschiffen aufgenommen werden.

Nach Angaben von Machthaber Abdel Fattah al-Sisi beherbergt Ägypten fünf Millionen Flüchtlinge. 200.000 sind offiziell registriert. Dazu kommen viele Ägypter, die keine Zukunft in ihrem Land mehr sehen. Jedes Jahr wächst Ägypten, das derzeit rund 92 Millionen Einwohner zählt, um eine weitere Million Menschen. Die Armut ist groß, die wichtigste Einnahmequelle, der Tourismus, liegt nach den Anschlägen der vergangenen Jahre am Boden.

Eine Möglichkeit, Ägypten zur Zusammenarbeit zu bewegen, ist die geplante Hilfszahlung des Internationalen Währungsfonds in Höhe von 12 Milliarden Dollar. Es gehe nicht, derartige Hilfen in Anspruch zu nehmen, sich aber beim Thema Migration einer Kooperation zu verweigern, sagte EU-Parlamentspräsident Schulz der Süddeutschen Zeitung. Al-Sisi hat bereits angekündigt, Gesetze gegen Menschenschmuggel und illegale Auswanderung zu verschärfen. Das Parlament soll im Oktober darüber beraten.

Überforderte Inseln.Mit seinem uralten Jagdgewehr zog ein 84-jähriger Bauer auf der griechischen Insel Lesbos am vergangenen Mittwoch los. Er habe die Flüchtlinge vertreiben wollen, gab er später der Polizei zu Protokoll. Niemand kam zu Schaden bei diesem Vorfall, der doch zeigt, wie sehr die Spannung auf der ostägäischen Insel zuletzt gestiegen ist.

Am Montag war das große Flüchtlingslager Moria auf Lesbos in Flammen aufgegangen, seither irren mehrere Tausend Menschen auf der Insel umher. Nur ein Bruchteil von ihnen fand eine neue Unterkunft. „Die ganze Situation ist außer Kontrolle“, klagte Moria-Leiter Nikos Trakellis einer griechischen Zeitung. „Man kann nicht 3000 Leute in einen Platz quetschen, der für 800 gedacht ist.“ Auf Lesbos fühlt man sich von der Führung in Athen ebenso vernachlässigt wie von ganz Europa.

60.000 Flüchtlinge hätten die EU-Staaten aus Griechenland laut EU-Verteilungsquote aufnehmen sollen. Doch nur rund 3700 wurden bisher von anderen EU-Staaten geholt. Österreichs Beitrag dabei: Null – von zugesagten 1491 Plätzen.

60.000 Flüchtlinge sitzen fest

In ganz Griechenland wird die Lage indessen immer schwieriger. Seit Jahresbeginn sind 168.000 Flüchtlinge in Griechenland gelandet. Nach dem Schließen der Balkan-Route und dem Abschluss des Türkei-EU-Abkommens, wonach Ankara keine Flüchtlinge mehr nach Europa weiterziehen lassen soll, wurde der Zustrom an Flüchtlingen schlagartig schwächer. Doch: An die 60.000 Flüchtlinge blieben wegen der weitgehend geschlossenen Grenzen auf der Balkanroute in Griechenland hängen. Sie leben, wie der jüngste Bericht von Amnesty International festhält, unter meist „empörend schlechten Bedingungen“. Seit Kurzem steigt auch der Zustrom an Flüchtlingen wieder: An die 120 Menschen kommen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) jeden Tag an.

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