2.707 Tage im iranischen Gefängnis: „Dort gilt kein Gesetz“

Als er seinen Sohn zuletzt gesehen hat, war er zwei Jahre alt. Jetzt ist er zehn und muss seinen Vater neu kennenlernen. Genauso wie die zwei Töchter, die inzwischen zu jungen Frauen herangewachsen sind. Nach seiner Inhaftierung musste seine Frau Harika plötzlich alleine für die drei Kinder sorgen und hörte keinen Moment auf für ihren Mann zu kämpfen.
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Vor genau einem Monat wurde der Österreicher Kamran Ghaderi überraschend aus seiner Haft im Iran entlassen. Er selbst hat 15 Minuten vor dem Abflug erfahren, dass die Wachen ihn zum Flughafen bringen. Genau sieben Jahre und fünf Monate Haft in der „Hölle“ liegen hinter dem 59-Jährigen.
Als „Hölle“ wird das Evin-Gefängnis in Teheran bezeichnet, in dem der studierte Elektrotechniker mit Tausenden anderen Gefangenen festgehalten wurde. Anfangs in einer Einzelzelle, die etwa 1,8 mal 2 Meter groß ist – ohne Fenster, aber dafür brennt das Licht 24 Stunden am Tag. „Ich hatte nur drei Decken, aber sehr viele Ameisen und Kakerlaken. Später kam ich in eine 4 mal 3 Meter große Zelle – da waren wir zu viert. Es gab weniger Platz, aber dafür Gesellschaft.“ Den Tagesrhythmus geben islamischen Gebetsrufe vor, mit denen die Gefangenen fünf Mal am Tag in dröhnender Lautstärke beschallt werden. Die Aussagen decken sich mit Berichten etlicher anderer Gefangener.
472 Tage verbringt Ghaderi im berüchtigten Trakt 209, der dem iranischen Geheimdienst untersteht. „Das ist wie der Vatikan innerhalb von Italien. Nicht einmal der Gefängnisdirektor darf da hinein. Da gilt kein Gesetz, wir haben es Friedhof genannt. Außerhalb der Zelle sind die Augen immer verbunden und man darf nicht sprechen. Wochenlang gab es nur 15 Minuten Ausgang pro Woche – und zwar nicht in einem Hof, sondern in einer größeren Zelle mit Glasdecke, durch die man den Himmel sehen kann.“
„Kein Picknick“
Über vieles, was er erlebt hat kann Ghaderi gar nicht sprechen. „Ich möchte vergessen. Ich spreche mit einer Psychologin darüber. Die Leute sind dort unter Folter, physisch wie geistig und ich war keine Ausnahme. Ich habe nachts sehr laute Schreie gehört. Und in der Zelle hatten wir Leute, die stark geschlagen worden sind, auch blutende Menschen. Also, es ist kein Picknick dort.“
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Doch was wurde ihm überhaupt vorgeworfen? Ghaderi wurde wegen „Zusammenarbeit mit feindlichen Staaten gegen die Islamische Republik“ zu zehn Jahren Haft verurteilt. Wenige Monate vor seiner Verhaftung war der IT-Berater als Teil der österreichischen Delegation mit dem damaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer im Iran.
Warum gerade er?
„Ich habe mir diese Frage sehr oft gestellt. Ich konnte keine Antwort finden. Aber nachdem ich mit anderen Inhaftierten zusammen war und Geschichten von Leuten aus dem Westen gehört habe, vermute ich sehr stark, dass sie Doppelstaatsbürger, Franzosen, Deutsche – Europäer und Amerikaner – festnehmen, um sie als Druckmittel bei Verhandlungen zu nutzen. Deswegen habe ich mir nach einer Zeit nicht mehr die Frage nach dem Warum gestellt, sondern die Frage, wie kann ich überleben, ohne viel Schaden zu erleiden?“
Also hat Ghaderi einen Plan für sich aufgestellt: „Ich habe ganz groß aufgeschrieben, du bist deiner Familie schuldig, so gesund wie möglich wieder nach Hause zu kommen – physisch und psychisch. Wenn man dort nichts macht, wird man depressiv. Wir haben dort genug Leute gesehen, die versucht haben sich umzubringen.“
Die Häftlinge außerhalb des Trakt 209 geben einander Unterricht – iranische Gefängnisse sind bekannt dafür, die intellektuelle Elite des Landes zu inhaftieren. Sie sind zu zwanzigst in einer 30m2 großen Zelle und lehren einander etwa Französisch und Spanisch, Ghaderi selbst unterrichtete Deutsch. Gesundheitlich hat er als Folge der Haftbedingungen eine dauerhafte Prothese an der Wirbelsäule. Dazu kommen Schlaf- und Essstörungen.
Flugticket nach Hause
Für die Chance heil zu seiner Familie zurückkehren zu können, war er gezwungen, die Forderungen des Geheimdienstes erfüllen: „Sie haben mir Papier gegeben, damit ich Geständnisse schreibe. Die musste ich mehrere Male neu schreiben.“ Um den dreifachen Familienvater zur Kooperation zu bewegen, sollen die Behörden ihm sogar ein Flugticket nach Hause unter die Nase gehalten haben. „Doch es war Trick und List. Ich habe geschrieben was sie wollten, aber dann haben mir sie das Flugticket weggenommen und gesagt, ich kooperiere nicht.“
Da erzählt Ghaderi von einem der Momente, in denen er dachte, es ist gleich aus mit ihm: „Sie haben mich aus der Zelle geholt, sehr grob, Augenbinde sowieso. Ich habe immer gefragt, wohin. Und da dachte ich dann, das sind meine letzten Schritte und habe sehr gezittert. Es ist unbeschreiblich. Als sie mir die Augenbinde abgenommen haben, war ich in einem Zimmer mit einem Mann.“
Ghaderi zieht bei seiner Erzählung den Kopf ein und blickt nach oben, als würde er nach einem Galgen Ausschau halten. „Es war keine Hinrichtung.“ Er saß vor einem Richter. Er versuchte ihn um Hilfe zu bitten, hat ihm seine Geschichte erzählt. Doch die Justiz interessierte sich nicht für seine Version.
„Sie haben mir vor zweieinhalb Jahren gesagt, sie wollen etwas haben und ich bleibe dort, bis sie das bekommen. Was sie wollten? Keine Ahnung. Aber das haben sie mir gesagt, weil ich jedes Jahr mehrfach Strafreduktion, Fußfessel oder Begnadigung beantragt habe.“
Dass seine Freilassung etwas mit dem wenige Tage davor über die Bühne gelaufenen Gefangenenaustausch des verurteilten Terroristen Assadollah Assadi gegen einen im Iran inhaftierten belgischen Entwicklungshelfer zu tun hat (siehe Infobox unten), hält Ghaderi für Spekulation. „Es kann sein, kann auch nicht sein.“
2. Jänner 2016
Kamran Ghaderi reist für eine Geschäftsreise in den Iran ein und wird direkt am Flughafen festgenommen.
Doppelstaatsbürger
Ghaderi ist seit 1991 österreichischer Staatsbürger und erklärt das Dilemma: „Das Regime stellt kein Visum für Ex-Iraner aus. Sie müssen, wenn sie einreisen wollen, mit iranischem Pass einreisen. Das ist das Paradoxe, da Österreich helfen wollte, aber das Außenministerium argumentiert mit Recht, dass es schwierig ist, einen Doppelstaatsbürger zu verteidigen, weil er mit iranischem Pass einreist.“
Juni 2018
Der iranische Diplomat Assadollah Assadi wird in Deutschland festgenommen, nachdem er von Wien aus einen Anschlag auf iranische Exil-Oppositionelle geplant haben soll. Das Attentat wurde durch die Polizei in Deutschland, Frankreich und Belgien vereitelt.
Jänner 2019
Der Austro-Iraner Massud Mossaheb ist Generalsekretär der Österreichisch-Iranischen Gesellschaft und reist im Rahmen einer Delegation im Iran ein. Er wird wegen des Vorwurfs der Spionage festgenommen und zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Februar 2022
Assadi wird als erster Diplomat in Europa vor einem belgischen Gericht wegen eines versuchten Terroranschlags zur Höchststrafe von 20 Jahren verurteilt.
Februar 2022
Kurz darauf wird der belgische Entwicklungshelfer Olivier Vandecasteele im Iran festgenommen.
26. Mai 2023
Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs wird Assadi im Oman gegen Vandecasteele getauscht. Zurück im Iran wird Assadi vom Regime gefeiert.
2. Juni 2023
Kamran Ghaderi wird gemeinsam mit Massud Mossaheb und einem Dänen aus der Haft im Iran entlassen.
Zur Geiseldiplomatie sagt Ghaderi dennoch: „Wir sind dort unter Folter. Das ist menschlich, dass wir gerne raus wollen. Aber keiner ist bereit auf Kosten anderer zu gehen. Da sind die Politiker am Zug.“
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