Julia Nawalnaja: Viel mehr als nur seine Frau
Die Richterin liest und liest, und alle im Raum wissen, was sie am Schluss sagen wird. Dreieinhalb Jahre wird es für den Mann im Glaskubus setzen, für Alexej Nawalny, Putins Intimfeind. Er sieht zu seiner Frau, formt mit seinen Händen ein Herz. In guten wie in schlechten Zeiten.
Julia Nawalnaja, die ein paar Meter weiter im Gerichtssaal steht, kommen die Tränen. Dass die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti genau das zu ihrer Headline machen wird, ist die eine Seite des politischen Spiels, das gerade in Russland gespielt wird. Dass das Herz, das Nawalny formt, nicht nur ein Liebesbeweis ist, ist die andere: Es ist auch das Zeichen jener Frauen im benachbarten Belarus (Weißrussland), die nach der Inhaftierung ihrer Ehemänner und Mitstreiter deren Rollen übernahmen – und wie Swetlana Tichanowskaja zu Gegenspielerinnen von Machthaber Lukaschenko wurden.
„Du hast mich gerettet“
Julia Nawalnaja könnte nun eine von ihnen werden. Die 44-Jährige steht, seit ihr Mann Alexej vergangenen Dienstag in einem international als Schauprozess angeprangerten Verfahren zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt worden ist, noch mehr im Rampenlicht als zuvor. Das wird sich in nächster Zeit auch kaum ändern: Nawalny wird im Gefängnis kaum in der Art kommunizieren können, wie er es bisher so meisterhaft getan hat. Und keiner seiner Mitstreiter hat die Strahlkraft, die seine Frau hat.
Das liegt vor allem an ihrem Auftreten im Sommer. Am 21. August, einen Tag nach der Vergiftung ihres Mannes, stand Nawalnaja mit großer schwarzer Sonnenbrille vor dem Krankenhaus im sibirischen Omsk, wo man ihren Mann wegen einer „Stoffwechselstörung“ behandelte. „Sie weigern sich, uns Alexej zu geben. Sie verstecken etwas vor uns“, sagte sie, die bis dahin nur die stille Frau an dessen Seite gewesen war, stoisch in die Kameras. Dann veröffentlichte sie einen Brief, der direkt an Wladimir Putin gerichtet war. „Ich beantrage offiziell bei Ihnen die Erlaubnis, Alexej Nawalny nach Deutschland bringen zu dürfen“, schrieb sie – ohne Anrede, ohne Höflichkeitsfloskel. Nawalny bedankte sich dafür später öffentlich, kurz nachdem er aus dem Koma erwacht war. „Du hast mich gerettet, Julia.“
"Heldin des Jahres"
Es war gewiss kein PR-Schachzug, wie Nawalnaja „mit kalter und nüchterner Würde“ öffentlich um das Leben ihres Mannes kämpfte, wie die unabhängige Novaja Gazeta schrieb, die sie Ende des Jahres zur „Heldin des Jahres“ kürte. Aber es war Kalkül, das aufging – und dem Kreml auf die Füße fiel. Die Ausreise, so der Plan, hätte Nawalny zum Dissidenten im Exil machen sollen. Doch statt ohne Einfluss im Westen zu sitzen, kehrte er zurück und wurde, was der Kreml unbedingt vermeiden wollte: ein Märtyrer in Haft, der nicht wegen seiner Politik Menschen anzieht, sondern wegen seines Schicksals.
Darum wird der Kreml auch wenig Freude damit haben, wenn statt Nawalny nun seine Frau in den Ring steigt. Das Zeug dazu hat sie: Zwar habe sie ihre Zuständigkeit bisher in „Alltagsbewältigung und Kindererziehung“ gesehen, sagte sie einmal scherzhaft, politisch aktiv war die studierte Ökonomin aber immer schon. Kurz nachdem sie Alexej 1998 auf einer Reise in der Türkei kennengelernt hatte, traten beide der sozialliberalen Partei Jabloko bei. Alexej verließ die Bewegung, bis heute eine der wenigen nennenswerten Oppositionsparteien, wegen eines Eklats um rassistische Aussagen von ihm 2007; sie trat 2011 aus. Seither unterstützt sie Nawalny und seinen Fonds zur Korruptionsbekämpfung, organisiert Wahlkämpfe und Proteste, tritt auch als Rednerin auf.
Das Private ist politisch
Präsent war sie auch stets im Netzuniversum ihres Mannes, über das er die Mehrheit seiner Anhänger erreicht. Fotos mit ihr und den beiden Kinder Darja (20), die in den USA studiert, und dem 13-jährigen Sachar waren oft auf seinem Instagram-Feed zu sehen; hunderttausende Likes inklusive. Das Paar inszeniert sich bewusst als Gegenstück zu Putin, der sein Privatleben so geheim wie möglich hält – eine Taktik, die Julia Nawalnaja fortsetzt. „Es gibt nichts, womit wir nicht zurechtkommen werden. Alles wird am Ende gut sein“, postete sie nach dem Urteil am Dienstag. Genau denselben Satz hatte sie schon im August nach dem Giftanschlag geschrieben.
In gewissen Punkten ist sie ihrem Mann gegenüber sogar im Vorteil. Sie ist unbescholten, darf also anders als er für ein Amt kandidieren. Mancher Beobachter mutmaßt sogar, dass sie eine verbindendere Rolle einnehmen könnte als ihr Mann, der seit jeher polarisiert: „Manche Menschen sympathisieren mit ihr mehr als mit ihm“, sagt Aleksandr Baunov von Carnegie Moskau. „Wir brauchen neue Stimmen, Julia ist die ideale Option.“
Dass Julias Stimme gehört und im Kreml ernst genommen wird, beweisen nicht nur Inhaftierungen und Hausdurchsuchungen bei ihr in den letzten Tagen. Auch, dass der ultrakonservative, Kreml-treue TV-Sender Zargrad sie öffentlich erpressen wollte, zeigt das: Nur, wenn sie nicht in die Politik gehe und keine „russische Tichanowskaja“ werde, veröffentliche man kein kompromittierendes Material über Affären ihres Mannes, hieß es in einem Video.
Julia Nawalnaja nahm das völlig unbeeindruckt zur Kenntnis – und tat: nichts. Sicher mit ein Grund, warum ihr Mann ihr das Herz gezeigt hat.
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