Plötzlich schiebt sich ein Pensionist an den Politiker heran und sagt mit zittriger Stimme: „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Meine Frau hat Krebs.“ Bidens Augen verengen sich. Nachdem er den Kloß im Hals heruntergeschluckt hat, fixiert der 77-Jährige sein Gegenüber und sagt vor aller Ohren: „Mann, ich weiß, wie sich das anfühlt. Es ist schrecklich. Aber irgendwann wird es besser, glauben Sie mir.“
Was sich wie ein hohler Kalenderspruch ausnimmt, wirkt Wunder. Der alte Mann hat Tränen in den Augen. Er bedankt sich ausgiebig. Biden sieht ihm einige Sekunden nach. Die kleine Szene charakterisiert wie unter dem Brennglas, warum in Amerika viele in Anlehnung an das Jiddische sagen: „Joe is a real Mensch.“ Ein feiner, ein guter, ein anständiger Mensch, der seiner Umwelt mit einer doppelten Portion Empathie begegnet. Und der, wie wenige in seiner Liga, in der Disziplin Leid-teilen-Trost-spenden behaupten kann: „Ich weiß, wovon ich spreche.“
Denn Joseph Robinette Biden Jr., der höchstwahrscheinlich Amerikas 46. Präsident wird, hat vom Schicksal Prüfsteine in den Lebensweg geknallt bekommen, dass es für zehn reichen würde. Biden, geboren am 20. November 1942 in Scranton/Pennsylvania, französisch-irischer Abstammung, Sohn eines Autohändlers, fing mit vier Jahren an zu stottern. Noch heute vergaloppiert er manchmal Rede-Passagen. 1988 wurde er wegen eines Aneurysmas am Hirn operiert.
1972, nur wenige Wochen nach seinem Einzug in den Senat von Washington, starben seine erste Frau Neilia und die 13 Monate alte Tochter Naomi unmittelbar vor Weihnachten bei einem Autounfall. Beau, 3, und Hunter, 2, die beiden Söhne, überlebten schwer verletzt.
Jahrelang fuhr Biden („Mr. Amtrak“) unter der Woche morgens und abends die 150 Kilometer zwischen seinem Heimatort Wilmington im Bundesstaat Delaware und Washington im Zug hin und her, um seine Buben ins Bett zu bringen. Seine zweite Frau, die First Lady-in spe Jill Biden, eine Lehrerin, heiratete er fünf Jahre nach der Tragödie. 1981 kam Tochter Ashley zur Welt.
Auch der Sohn starb
2015 musste Biden seinen ältesten (Lieblings)Sohn Beau, der Justizminister in Delaware war und US-Kriegseinsätze absolviert hatte, nach einem Hirnturmor zu Grabe tragen. Auf dem Totenbett nahm ihm der charismatische Jung-Politiker ein Versprechen ab: „Dad, du musst mir versprechen, dass es dir gut gehen wird.“
Zwischen all diesen Kapiteln brachte Joe Biden 47 Jahre im Senat, drei Präsidentschaftskandidaturen und acht Jahre Vizepräsidentschaft unter Barack Obama hinter sich – ohne je den Lebensmut zu verlieren. Der gläubige Katholik hat seine Dramen zu einer politischen Botschaft mit Seltenheitswert kondensiert: Wenn die Nation leidet, ob nach 9/11 oder jetzt in der Corona-Krise personifiziert Joe Biden Mitgefühl und Trauerfähigkeit. Rick Wilson und George T. Conway, Republikaner und Trump-Hasser, hatten Biden schon früh im Jahr einen Kranz geflochten: „Dieses Land sehnt sich nach einem Präsidenten mit einem Rückgrat, das von Tragödien gestählt ist, der eine von Erfahrung geprägte Weltsicht besitzt und ein Herz, dessen Kompass in Richtung Anständigkeit zeigt.“
Evan Osnos, Bidens Biograph, hält ihn nicht nur für bestens gerüstet, um das wund gerittene Land zu entgiften. In seinem lesenswerten neuen Buch „Joe Biden: Ein Porträt“ attestiert Osnos dem Präsidenten in spe die Fähigkeit, große Reform-Vorhaben anzustoßen, die an die Zeiten von Franklin Delano Roosevelt nach der Weltwirtschaftskrise 1932 erinnern.
Der Schlüssel zum Erfolg in einem Amerika, in dem Einheitsstifter keine Konjunktur haben, könnte aus Sicht von Wegbegleitern darin liegen, dass Biden wie kein Zweiter parteiübergreifende Netzwerke aufgebaut hat. „Kann er sie mit praktischen Erfolgen nutzen, Stillstand überwinden und vergrätzte Wählergruppen durch geräuschlose Arbeit beeindrucken, wird Joe Biden eine große Präsidentschaft hinlegen“, sagte ein republikanischer Stratege dem KURIER.
Erfolgschancen? „Joe würde sagen: Es kann nur besser werden ...“
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