Im Westjordanland wachsen die Mauern - auch in den Köpfen
Der Weg zur Klagemauer ist beinahe menschenleer. Keine Touristen, kein Gedränge, nur ein einziger orthodoxer Jude ist da und tanzt.
Er singt wie in Trance, dann kreist ihn eine kleine Gruppe Strenggläubiger ein. Sie hüpfen, singen mit ihm, ihre Maschinengewehre schwingen im Takt.
Seit die Hamas ihr Massaker verübt hat, ist auch in Jerusalem alles anders. Der Tempelberg, wie die Juden ihn nennen, ist fest in der Hand der Orthodoxen; nicht nur Urlauber, vor allem Muslime fehlen. Früher pilgerten jeden Tag tausende Palästinenser aus dem Westjordanland hierher, zum Felsendom, der al-Aksa-Moschee. Heute lässt Israel von dort keine Palästinenser mehr ausreisen.
Bewusste Verdrängung
Durch Israel geht eine Mauer, eine mentale und eine echte, das war schon vor dem Anschlag so. Doch seit dem 7. Oktober kann man den Zäunen beim Wachsen zusehen: 700 Checkpoints gab es bisher im Westjordanland, wo das Gros der Palästinenser lebt, das aber von Israels Armee kontrolliert wird. Jetzt trifft man allerorts mobile Kontrollposten: „Wer ein paar Dutzend Kilometer in die Arbeit fahren muss, braucht dafür jetzt mehrere Stunden“, sagt ein Betroffener – sofern man nicht noch gefilzt wird.
Das sind bewusste Schikanen. Saßen früher gut ausgebildete Soldaten an den Checkpoints, sind es nun oft radikale Siedler in Uniform – der Großteil der Soldaten ist im Gazastreifen, und im Schatten des Krieges üben die Siedler ihre neue Macht aus. Die 5.500 neu rekrutierten „regionalen Verteidigungskräfte“ schauen bei Übergriffen weg, sagen NGOs: 20 Tote hat es seit Oktober gegeben, teils eroberten militante Siedler ganze Dörfer, verbrannten Felder, verwüsteten Schulen. Fünf oder sechs solcher Überfälle gibt es pro Monat.
Politisch ist das nicht nur gedeckt, sondern gewollt. Zwar hat die Hamas auch im Westjordanland ihre Verstecke, Tunnel gibt es hier ebenso, inmitten ziviler Infrastruktur, wie Militärsprecher Arye Shalicar sagt. Doch dass die Maßnahmen die ganze Bevölkerung treffen, ist Sicherheitsminister Itamat Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich zu verdanken.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat ihnen die Westjordanlandpolitik übertragen, zwei Rechtsextremen, die in israelischen Siedlungen im Westjordanland leben – abgeschirmt mit Stacheldraht, völkerrechtlich illegal. Smotrich spricht offen von einem „Unterwerfungsplan“ und vom „Ausradieren“ palästinensischer Dörfer durch Siedler. Deren Zahl wächst, subventioniert von seinem Ministerium: Eine halbe Million kommt im Westjordanland auf 2,5 Millionen Palästinenser.
Eskalation mit Ansage
Radikal sind bei weitem nicht alle Siedler. Viele Israelis ziehen hinter den 759 Kilometer langen Stacheldraht, weil das Leben viel billiger ist als in Tel Aviv, und die Einreise zum Arbeiten ist mit israelischem Pass auch kein Problem. Palästinenser, die schon vor dem Krieg mehrere Bewilligungen dafür brauchten, können nicht so einfach pendeln: Sie bekommen keine Arbeitsgenehmigungen mehr für Israel. 130.000 sind arbeitslos, in Städten wie Hebron sind das 70 Prozent der Bevölkerung.
Die Hamas dürfe am „Tempelberg nicht ihren Sieg feiern“
Im Ramadan wurden stets mehr Bewilligungen ausgestellt, Palästinenser durften nach Jerusalem zu ihren heiligen Stätten. Ben-Gvir will das ändern: Wenn der Fastenmonat nächste Woche beginnt, soll Palästinensern und muslimischen Israelis unter 70 der Zugang verwehrt werden. Die Hamas dürfe am „Tempelberg nicht ihren Sieg feiern“, sagt er.
Tempelberg, das ist das jüdische Wort für das umstrittene Areal – der muslimische Felsendom thront ja auf den Überresten des zerstörten jüdischen Tempels, dessen Westmauer heute heiligste Stätte der Juden ist. 1967, als Israel das Westjordanland und Ostjerusalem erobert hatte, hissten israelische Soldaten auf dem muslimischen Heiligtum ihre Flagge. Damals pfiff die Regierung sie zurück, aus Angst vor einer weiteren Eskalation.
Eine solche prognostizieren Beobachter auch, wenn Ben-Gvir seinen Plan durchsetzt. Nur: Dass Netanjahu ihn zurückhält, das bezweifeln sie.
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