Korruptionsprozess: Netanjahu sagt erstmals vor Gericht aus
Zum ersten Mal in der Geschichte Israels sagte am Dienstag vor dem Tel Aviver Landesgericht ein wegen Korruption angeklagter und amtierender Premier als Zeuge aus. Benjamin Netanjahu in eigener Sache. Vor dem Gerichtsgebäude lieferten sich Gegner und Sympathisanten des Premiers Protestgefechte. In schweigendem Protest stellten sich auch Angehörige der immer noch im Gazastreifen gefangen gehaltenen israelischen Geiseln vor den Eingang.
Das ist kein Prozess wie jeder andere. Es ist eine Machtprobe - zwischen Regierung und Gericht.
Auch eine ganze Reihe an Ministern und Abgeordneten zeigten ihre Solidarität vor dem Gerichtsgebäude. Seit acht Jahren unterstützen sie Netanjahu mit aller Macht dabei, diesen Prozess zu blockieren. Ausgerechnet Itamar Ben Gvir, ministeriell für die polizeilichen Ermittler verantwortlich, forderte die sofortige Entlassung der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara. Verkehrsministerin Miri Regev beschwerte sich: „Wieso wurde ein Aufschub abgelehnt?“
Dabei hatte sich der Angeklagte/Zeuge/Premier Netanjahu noch am Vorabend darüber beschwert, dass ihm die ständigen Terminverschiebungen zum Vorwurf gemacht werden: „Ich und kneifen? Acht Jahre musste ich warten, endlich meine Version der Ereignisse vortragen zu dürfen.“
2008 war sein Vorgänger Ehud Olmert wegen Korruption angeklagt. Damals in der Opposition war für Netanjahu noch alles klar: „Ein Premier, gegen den ermittelt wird, hat kein Mandat mehr.“
2024 aber ist alles anders. Sechs Anträge auf Verschiebung gab es allein in den letzten fünf Monaten. Nach 220 Stunden Beweisaufnahme. Mit 140 Zeugen und fünf noch laufenden Klagen gegen Netanjahu-Anhänger - wegen Einschüchterung von Zeugen. Ein Kronzeuge änderte vor Gericht seine Aussage vor der Polizei. Keinen Schritt durften die polizeilichen Ermittler ohne Bestätigung der Staatsanwaltschaft machen. Kein Ermittler, der vor acht Jahren mit dabei war, ist heute noch dabei. Der erste Chefermittler kündigte: „Ich wurde behindert.“
Netanjahus Anhänger werfen der Justiz vor, einen Putsch gegen den Premier durchzuführen. Sein Verteidiger Amit Chadad sprach auch am Dienstag wieder von „politischer Verfolgung“. Dabei wäre schon vor Jahren ein Deal möglich gewesen: Einstellung des Verfahrens gegen Rücktritt. Damit sollte die Peinlichkeit einer Anklage Israel wie Netanjahu erspart bleiben.
Darum wohl erwähnte die Verteidigung am Dienstag bescheiden politische Erfolge: „Wir haben das Angesicht des Nahen Ostens verändert.“ Netanjahu will zeigen, wovon sein Zeugenauftritt ihn abhält. Die Justiz ist dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet. Netanjahu der Erhaltung seiner politischen Macht.
Die zeigt er offen vor Gericht. Mit dieser Macht versuchte die Regierung auch, 2023 die Justiz und damit Israels Demokratie weitgehend lahmzulegen. Monatelang provozierte ihre Justizreform tägliche Massenproteste in ganz Israel. Ein Chaos entstand, das letztlich in Teheran und Gaza die Auffassung stärkte, Israel sei reif für einen tödlichen Angriff.
Die Anklage liegt seit fünf Jahren unverändert vor den Richtern: Bestechung, Betrug, Veruntreuung. In der „Akte 1000“ wird Netanjahu Bestechung und Vorteilsnahme im Amt vorgeworfen. Akribisch aufgezeichnet sind Juwelen, kubanische Zigarren und Dom Perignon Rosé-Flaschen, die Familie Netanjahu über Jahre von einem befreundeten Millionär geliefert wurden. Geschenke unter Freunden, sagt die Verteidigung. Die Anklage sieht eine „systematische Nachschubkette“. Mit Hilfe von Codeworten: "Blätter" und „Rosiges“.
In der Akte 2000 geht es um Absprachen mit Israels größtem Medienhaus. Wohlwollende Berichterstattung im Wahlkampf. Im Gegenzug ein Gesetz, das einer konkurrierenden Gratiszeitung das Leben erschweren sollte. Ähnlich lauten die Vorwürfe in der Akte 4000. Sie bezieht sich auf die neuen Medien. Kuschelberichte online. Für die Erlaubnis, einen neuen Fernsehsender aufzustellen. "Ich wollte die Medien nicht schwächen", so Netanjahu am Dienstag, "ich wollte sie vielfältiger gestalten."
Fünf Jahre unter Anklage
Zehn Jahre Verdacht, acht Jahre Ermittlungen und fünf Jahre unter Anklage. So lang schon kann Netanjahu einem Rücktritt aus dem Weg gehen. Doch sein Verhalten in den letzten Wochen zeigt: Er gerät zunehmend in Panik.
50 bekannte Wirtschaftsführer unterschrieben eine Forderung, ihn für amtsunfähig zu erklären. Nicht alle seiner Abgeordneten weiß er fest geschlossen hinter sich. Mit den schweigenden Geiselangehörigen vor dem Gericht stand auch wieder laut der Vorwurf im Raum, er verzögere eine Kampfeinstellung im Gazastreifen. Und somit auch eine Geiselbefreiung.
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