Israels Neujahrsfeierlichkeiten sind eigentlich Tage der stillen Einkehr, der Reue wie der Hoffnung. Wie immer wird auch heuer rituell 100-mal ins Widderhorn gestoßen. Doch die Alarmsirenen heulen mit. In diesem Kriegsjahr fallen die Feiern zusammen mit der Erinnerung an das Massaker der Hamas-Miliz im Süden Israels am 7. Oktober 2023. Mit über 1.200 Leichen und 251 Verschleppten.
„Das wird einige Wochen dauern, bis die Geiseln zurück sind“, dachte Merav Svirsky vor einem Jahr. Ihre Eltern wurden am 7. 10. ermordet, ihr Bruder Itai entführt. Doch den Geisel-Angehörigen wurde bald klar, dass die Anteilnahme der Regierung gegenüber den Familien der Geiseln nicht sehr tief ging.
Gelbe Schleifen und Plakate mit Bildern der Entführten hängen immer noch an jeder Ecke. Doch sie verbleichen, setzen Staub an. Mehr noch: Vor einem Jahr noch undenkbar, werden protestierende Geiselangehörige heute von Anhängern von Premier Benjamin Netanjahu beleidigt, sogar angespuckt. Als Wehrkraftzersetzer.
Doch: Im Gegensatz zur Armeeführung bat der Regierungschef niemals um Vergebung für das Versagen am 7. Oktober. Niemals kam das Wort Rücktritt über seine Lippen. Ist von Verantwortung die Rede, schweigt er.
Ein Untersuchungsausschuss soll bis nach dem Krieg warten, betont er stets. Und es soll kein staatlicher sein, also unabhängig und mit gerichtlichen Vollmachten. Ein „amtlicher“ täte es ja auch. Abhängig vom Regierungschef.
Netanjahus Versagen
Derweil sonnt sich Netanjahu in den Erfolgen der Streitkräfte an der Front. Doch dabei vergisst er ein uraltes zionistisches Prinzip: Einer steht für den anderen ein. Keiner wird zurückgelassen.
Eines der wichtigsten Gebote für Juden ist seit Jahrhunderten die Auslösung von Geiseln. Ausgerechnet Netanjahus „patriotischste aller Regierungen“ zeigte sich bisher unfähig, diese Pflichten einzuhalten.
Er „überlässt“ die Verantwortung für das katastrophale Scheitern vor einem Jahr der Armee. Umgekehrt geht er mit den militärischen Erfolgen der letzten Wochen gerne hausieren.
Einer Waffenruhe erteilt er eine klare Absage, weil einer solchen „bald neue Angriffe auf Israel folgen“ würden. „Stattdessen geht es jetzt sofort mit einem Vielfrontenkrieg weiter“, analysiert Ex-General Amos Yadlin, der eine Regenerationsphase vorgezogen hätte.
Dahinter steht auch die extreme Rechte, die Netanjahu schon 2022 in die Regierung geholt hatte. Langfristig hoffen diese Kreise auf ein klerikales Königreich Judäa anstelle des Staates Israel.
Umgekehrt duldete der Premier Geldlieferungen über Katar, die in Koffern an die Hamas in Gaza übergeben wurden, schon seit 2018. Die Stärkung der Hamas sollte die säkulare PLO und die palästinensische Autonomieregierung schwächen.
Jetzt ist diese zu schwach, die Macht im Gazastreifen selbst von der schwer angeschlagenen Hamas an sich zu reißen.
Eine Änderung ist deutlich spürbar nach einem Jahr Krieg: Im sonst so lebensfrohen Israel macht sich Angst breit. Erwartet wurde internationale Solidarität im Kampf gegen Terrorismus und iranische Klerikaldiktatur. Stattdessen aber sieht man in aller Welt steigenden Antisemitismus.
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