Israel: Sicherheitskabinett billigt Besetzung von Gaza-Stadt

Vollständige Eroberung, so lautet die Zauberformel: Geht es nach Israels Premier Netanjahu, so soll der Krieg im Gazastreifen nicht nur andauern, sondern sogar ausgeweitet werden – Netanjahu forderte erstmals offen die Einnahme des gesamten Gebietes, er wolle das Gebiet aber nicht dauerhaft halten.
"Wir haben die Absicht", sagte Netanjahu dem Sender Fox News gestern kurz vor Beginn der Sitzung des Sicherheitskabinetts auf die Frage, ob Israel die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen übernehmen werde: "Wir wollen ihn nicht behalten. Wir wollen eine Sicherheitsgrenze haben. Wir wollen ihn nicht regieren", fügte der israelische Regierungschef hinzu. Anschließend solle das Gebiet an "arabische Kräfte" übergeben werden, die den Küstenstreifen "ordnungsgemäß regieren". Derzeit kontrolliert Israels Armee etwa drei Viertel des Küstenstreifens.
Gaza Stadt soll eingenommen werden
Die nach stundenlangen Beratungen vom israelischen Sicherheitskabinett beschlossenen Pläne gehen vorerst jedoch nicht so weit:
Das Gremium billigte einen Militäreinsatz zur Einnahme der Stadt Gaza. Ziel sei die Evakuierung der Bewohner in Flüchtlingslager im zentralen Abschnitt des Gazastreifens - dies solle bis Anfang Oktober geschehen.
Das Sicherheitskabinett beschloss zudem fünf Prinzipien, um den Krieg im Gazastreifen zu beenden. Dazu gehörten unter anderem die militärische Kontrolle des Küstengebiets durch Israel und die komplette Entwaffnung der islamistischen Hamas sowie die Entmilitarisierung des Gazastreifens. Anschließend solle dort außerdem eine alternative Zivilregierung aufgebaut werden.
Druck auf Hamas erhöhen
Die geplante Ausweitung der Kämpfe stößt auf breite Kritik. Weltweit, aber auch im eigenen Land. Nicht nur die Opposition, sogar Israels Armeeführung würde es vorziehen, das Szenario zu vermeiden. „Ich werde mich nicht für Maßnahmen hergeben, die das Leben der Geiseln bedrohen“, wird Armeechef Eyal Samir zitiert. Regierungschef Benjamin Netanjahu bleibt davon aber unbeeindruckt: „Die Armee wird jeden Auftrag ausführen“, sagte er. „Die Niederlage des Feindes muss vervollständigt und alle Geiseln müssen befreit werden, um sicherzustellen, dass Israel aus dem Gazastreifen nicht mehr bedroht wird“, so der Premier.
Die Armee glaubt, dass partielle Blockaden genügen, den Druck auf die Hamas stufenweise zu erhöhen, und um so die Geisel-Verhandlungen zum Waffenstillstand zu führen. Und vor allem, um auch die Hamas von den bisher für sie zugänglichen Transportwegen der internationalen Hilfslieferungen abzuschneiden. Das wiederum würde die Möglichkeiten der Hamas-Terroristen zur Einschüchterung der Zivilbevölkerung drastisch einschränken. Israels Armee geht es – anders als der Regierung – nicht um Landnahme, sondern um die Abtrennung der Hamas vom Volk.
Absprache mit den USA
Für den Plan braucht es aber zwei Bedingungen: In Absprache mit den USA und den arabischen Verbündeten muss die zeitliche Beschränkung einer Eroberung klargestellt werden. Ebenso müsse die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Hilfsgütern gewährleistet sein. Die neu gegründete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) und ihre Verteilungszentren haben sich als Flop erwiesen. Die Hamas konnte zwar kaum noch Lieferungen überfallen. Doch statt der Hamas erbeuteten nun andere Straßenräuber die Waren.
Jetzt laufen infolge internationalen Drucks die Hilfsgüter weniger gehindert in den Gazastreifen, auch über die UN-Organisationen. Zwischen Mai und August kamen aber von mehr als 2.000 Lkws nur 260 tatsächlich ans eigentliche Ziel, zu Gazas Zivilbevölkerung. Das geht aus einem Papier der EU-Kommission hervor. Ob verstärkte militärische Präsenz Israels den Nachschub besser schützen kann, ist ungewiss.
Räumungspläne
Israel erinnert sich in diesen Tagen stark an die Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen im Jahr 2005. Mehr als ein Minister träumt inzwischen wieder von Ewigkeitsanspruch und neuem Siedlungsbau im Küstenstreifen – das würde eine Umsiedelung der Palästinenser beinhalten. Passenderweise wurden kurz vor Beginn der Regierungssitzung Pläne der Boston Consulting Group publik, die für israelische Geschäftsleute genau das durchgerechnet haben: 25 Prozent der Palästinenser, so die Schätzung, könnten dauerhaft abgesiedelt werden, die Kosten dafür würden etwa 4,7 Milliarden Dollar betragen. Als mögliche Zielländer kämen laut den Beratern Somalia sowie die abtrünnige Region Somaliland infrage, auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Jordanien standen auf der Liste.
Ähnliche Ideen ventilierten US-Präsident Trump und israelische Regierungsvertreter schon im Frühjahr; mit Somaliland sollen US-Vertreter sogar bereits Verhandlungen geführt haben. UN-Offizielle nennen den Plan seit jeher „ethnische Säuberung“, Ägypten und viele arabische Länder haben sich vehement gegen die Aufnahme dislozierter Palästinenser ausgesprochen.
In Israel weiß man um die Probleme, die eine vollständige Besetzung des Gazastreifens mit sich brächte. Vor 20 Jahren zog Israels Armee freiwillig wieder ab, zu hoch waren die Kosten und zu zahlreich die Todesopfer unter Soldaten und Siedlern. Auch für die Familienangehörigen der Geiseln, die noch immer festgehalten werden, wäre eine Eroberung des gesamten Gazastreifens ein Schock. Der Vater einer Geisel: „Passiert meinem Sohn etwas, klebt sein Blut an den Händen der Entscheidungsträger.“
UNO ist alarmiert
Über eine vollständige Einnahme des Streifens war bereits seit Tagen spekuliert worden. Die Vereinten Nationen (UN) hatten daher schon am Dienstag solche Pläne als „zutiefst alarmierend“ bezeichnet. „Das Völkerrecht ist in dieser Hinsicht eindeutig: Der Gazastreifen ist und muss ein integraler Bestandteil des künftigen palästinensischen Staates bleiben“, hatte der stellvertretende UN-Generalsekretär Miroslav Jenca gesagt. Die Einnahme des ganzen Gazastreifens durch Israel könne das Leben der verbliebenen Geiseln in Gaza weiter gefährden.
Israels massive Militäroffensive hat bisher mindestens 61.000 Todesopfer auf palästinensischer Seite gefordert, ein Drittel davon sollen Kinder und Jugendliche sein, so berichtet das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium. Die Offensive folgte als Antwort auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023. Tausende islamistische Terroristen hatten damals israelische Dörfer nahe dem Gazastreifen überfallen, rund 1.200 Menschen getötet und 251 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
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