Wie Bilder abgemagerter Kinder aus Gaza zur Munition im Krieg werden

Palestinians wait to receive food from a charity kitchen, in Gaza City
Zeigen Medien verzerrte Bilder aus dem Gazastreifen? Im Krieg werden Fotos knochiger Kinder zur Waffe – und zwar für beide Seiten. Der ideologisch gefärbte Streit übertüncht aber Wesentliches.

Ausgerechnet die New York Times. Das mediale Institution, die speziell seit der Ära Trump noch mehr mit dem Ideal der Wahrheit wirbt, hat komplett danebengehauen. Vor einigen Tagen zeigte das US-Blatt den anderthalbjährigen Mohammed Zakaria al-Mutawak, auf der Titelseite. Der Kleine liegt in den Armen seiner Mutter; jeder Wirbel, jede Rippe des Kleinen ist zu sehen. Die Haut spannt, ist fast durchsichtig, als Windel trägt der Bub einen Müllsack. Darunter steht: Mohammed sei gesund auf die Welt gekommen, sagt seine Mutter. Doch jetzt verhungere er, wie so viele Kinder in Gaza.

Mohammed, so stellte sich heraus, leidet an Zerebralparese. Er braucht Spezialnahrung, sein Hirn ist von Geburt an geschädigt, er ist chronisch krank. Sein Bruder ist normalgewichtig, doch er war auf dem Bild nicht zu sehen. Der Skandal war perfekt.

Ist das üble Propaganda, wie Israel sagt, wird hier das ein „falsches Narrativ einer Hungersnot“ verbreitet? Also: Gelogen wie gedruckt?

Malnourished toddler in Gaza fights for life amid ongoing Israeli attacks

Das Bild des kleinen Mohammed, das um die Welt ging. Der Bub ist mangelernährt - hat aber auch eine Erkrankung.

Kampf um Deutungshoheit

So einfach ist es nicht. Der Gazakrieg ist, wie jeder Krieg zuvor, eine Schlacht der Bilder, ein endloser Kampf um Deutungshoheit. Und der wird komplizierter: Seit dem Angriff der Hamas vor knapp zwei Jahren wird mit jedem Tag lauter darüber gestritten, was im Gazastreifen passiert und wer Schuld trägt. Bombardiert Israels Armee ein Spital mit Zivilisten, argumentiert Jerusalem, die Hamas nutze Unschuldige als Schutzschild. Das stimmt zwar, rechtfertigt „Kollateralschäden“ aber nie. Unterbindet Israel Hilfslieferungen wie zuletzt, heißt es, die Hamas würde die Güter stehlen und die Menschen hungern lassen. Das mag zwar auch stimmen, hat aber so oder so verheerende Folgen.

Aid enters Gaza Strip after Israel announces daily pause of hostilities

Der Hunger ist real: Fast zwei Monate lang blockierte Israel Lieferungen  im Gazastreifen, jetzt eintreffende Hilfe reicht nicht.

Das große Problem dabei ist, dass unabhängige Berichterstattung aus dem Gazastreifen fast unmöglich ist. Lokale Journalisten, die noch vor Ort sind, müssen nicht nur im Krieg, sondern auch unter dem Regime der Hamas arbeiten. Objektivität ist dabei nicht immer das höchste Gut, sondern das eigene Überleben. Ähnlich ist es bei Hilfsorganisationen, auch sie können nicht ohne den Sanktus der Terroristen agieren. Israel gelten sie darum als Kollaborateure, deren Warnungen nicht mehr glaubhaft seien. Das hörte man zuletzt auch von IKG-Chef Oskar Deutsch und Ex-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Er könne „die UNO nicht ernst nehmen“, sagte der ÖVPler.

Medien wie die New York Times, die – ob bewusst oder nicht – das Bild des kleinen Mohammed mit fehlendem Kontext zeigten, sind da Wasser auf die Mühlen aller Zweifler. Für Israels Regierung ist das ein aufgelegter Elfer: Sie nutzt den Vorfall für eine Fake-News-Kampagne, denn auch andere Medien verbreiteten Bilder mit verzerrtem Kontext. Die Zeit schrieb zu Mohammed „So sieht Hunger aus“, eine italienische Zeitung schrieb zum Bild eines anderen abgemagerten Buben: „Handelt es sich hier um ein Kind?“, eine Anspielung auf das Buch „Ist das ein Mensch?“ des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi. Unerwähnt ließ man die schwere Stoffwechselkrankheit des Buben – und dass er seit Juni in Mailand behandelt wird.

Alle Publikationen stellten klar, dass sie wesentliche Informationen nicht veröffentlicht hätten. Ob die Leser das vernommen haben, ist die andere Frage, im medialen Rauschen bleibt meist nur die Aufregung hängen. Befeuert haben die auch andere Medien, etwa der laut ausgewiesen Israelfreundliche Springer-Verlag: Die Bild sprach davon, dass „Kinder für Propaganda missbraucht“ würden.

On Gaza malnutrition ward, a child's limb is as wide as a mother's finger in Khan Younis

Ein hungerndes Kind in einem Spital in Khan Younis.

Die Kraft der Bilder

Alle Medien wissen um die Kraft der Bilder. Das Foto von Napalm-Mädchen Kim Phúc, das nackt auf einen Fotografen zulief, ging nicht nur um die Welt, es trug wohl auch zum Ende des Vietnamkrieges bei. Ebenso war es bei Alan Kurdi, jenem Zweijährige, dessen angespülte Leiche den Horror der Flüchtlingskrise verdichtete.

Mit Social Media ist der Kampf der Bilder noch grausamer geworden. Schon vor einem halben Jahr kursierten Bilder von Kindern im Schlamm, angeblich aus Gaza; sie hat sich die KI erdacht. Doch dass hungernde und sterbende Kinder in Gaza keine Erfindung sind, davon zeugen hunderte Bilder abseits der falschen und fälschlich verwendeten: Seit Beginn des Krieges sind die Datenbanken voll des Grauens. Nur gezeigt werden die Gräuel aber aus Pietät nur selten (siehe oben).

Selbst das Foto des kleinen Mohammed ist Beweis dafür, dass der Hunger real ist. Dessen Mutter wurde nach dem Skandal von der BBC kontaktiert; dort sagte sie, sie bekomme weder Spezialnahrung noch Medikamente für ihren Sohn: „Er hat nur mehr sechs Kilo. Früher waren es neun.“

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