Genozid-Vorwürfe werden lauter: Auch in Israel wächst die Kritik am Gaza-Krieg

PALESTINIAN-ISRAEL-CONFLICT
Erstmals verurteilen israelische Menschenrechtsorganisationen das Vorgehen im Gazastreifen als Genozid. Die Regierung Netanjahus weist die Vorwürfe zurück – und das Sterben im umkämpften Küstenabschnitt geht weiter.

Eine Mutter, die mitansehen musste, wie Mann und Kinder in Rafah von einem Panzer überrollt wurden. Menschen, deren Angehörige bei Bombenangriffen vor ihren Augen verbrannten. Ein Sanitäter, der gezwungen war, eine sterbende Mutter und ihr Baby nach einem Luftangriff im völlig zerstörten Krankenwagen zurückzulassen.

Es sind erschütternde Zeugnisse aus dem Gazastreifen, die die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem seit Oktober 2023 dokumentiert hat. Nun hat sie diese in einem Bericht veröffentlicht. Er markiert einen Wendepunkt: Zum ersten Mal bezichtigt eine israelische NGO das eigene Land des schlimmsten denkbaren Verbrechens – Völkermord.

"Koordiniertes Vorgehen"

Konkret spricht B’Tselem von einem „koordinierten Vorgehen, um vorsätzlich die palästinensische Gesellschaft im Gazastreifen zu zerstören“. Damit steht die Organisation nicht allein da. Auch „Ärzte für Menschenrechte Israel“ (PHRI) erhebt in einem am Montag präsentierten Bericht den Vorwurf des Genozids an den Palästinensern.

Demnach erfülle die israelische Offensive „mindestens drei Tatbestände“, wie sie in Artikel II der Völkermordkonvention definiert sind: die Tötung von Mitgliedern der Gruppe, das Zufügen schweren körperlichen oder seelischen Schadens und die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen.

Kollabiertes Gesundheitssystem

Der 13. Oktober 2023, als das israelische Militär die Evakuierung von 22 Krankenhäusern in Gaza-Stadt und im nördlichen Gazastreifen anordnete, markierte laut der israelischen NGO PHRI den Beginn eines „beispiellosen und systematischen“ Angriffs auf das Gesundheitssystem Gazas:

Seitdem wurden 33 von 36 Krankenhäusern und Kliniken bombardiert, ihnen wurde Wasser und Treibstoff entzogen, medizinisches Personal wurde getötet. Inzwischen sterben täglich Dutzende an Unterernährung, 92 Prozent der Kleinkinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bekommen nicht genug zu essen, kritisiert PHRI. Kurz: „Das System ist unter dem Druck unablässiger Angriffe und der Blockade zusammengebrochen.“

Die NGOs kritisieren in ihren Berichten auch die internationale Gemeinschaft. Laut B’Tselem sei die „unbegreifliche Schwere dieser Verbrechen“ nur durch „internationales Nichtstun“ möglich. Viele Regierungen hätten nicht nur keine Maßnahmen ergriffen, sondern die Gewalt Israels aktiv begünstigt, etwa durch Waffenlieferungen. Mit Blick auf das Vorgehen der Regierung Netanjahus im Westjordanland und in Ostjerusalem warnt die Organisation zudem, „dass sich der Völkermord nicht auf den Gazastreifen beschränken wird“.

Hungersnot im Gazastreifen

Israels Regierung weist die Kritik zurück. „Es ergibt überhaupt keinen Sinn, dass wir 1,9 Millionen Tonnen Hilfsgüter (in den Gazastreifen) schicken, wenn es die Absicht eines Genozids gäbe“, so Regierungssprecher David Mencer. Verantwortlich für das Leid in Gaza sei die Terrororganisation Hamas

Außenminister Gideon Saar bezeichnete Berichte über eine Hungersnot als Lüge. Hintergrund: Die Vereinten Nationen haben am Dienstag erneut vor einer „humanitären Katastrophe“ im Gazastreifen gewarnt. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium meldete indes mehr als 60.000 Tote seit dem 7. Oktober 2023.

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