Wie Netanjahu Geiseln riskiert, um den Krieg in Gaza auszuweiten

Gerade hieß es noch, ein Abkommen zwischen Israel und der militant-islamistischen Hamas stehe kurz bevor.
Doch in der Nacht zum Dienstag kündigte Israels Premier Benjamin Netanjahu in einem X-Clip die Ausweitung der Kämpfe im Gazastreifen gegen die letzten Hamas-Enklaven an. Was die dort von der Hamas versteckten israelischen Geiseln gefährdet, warnt die Armeeführung.
Und Netanjahu schwieg zur dabei wichtigsten Frage: Wie kann Israel nach fast zwei ermüdenden Kriegsjahren durch eine solche Ausweitung doch noch seine Kriegsziele erreichen?
Netanjahus Armeechef steht angeblich vor dem Rücktritt
Es ist kein militärisches Geheimnis, dass auch die Armeeführung das Warum und Wie des politischen Oberkommandos schon lange nicht mehr versteht. Deshalb fordert Armeechef Eyal Sini auch klare Anweisungen vor einem neuen Angriffsbefehl. Mit einer öffentlichen Kostenabwägung.
Netanjahu verbucht militärische Erfolge gerne für sich. Misserfolge hängt er lieber der Armee an. Wie den blutigen Hamas-Angriff auf Israels Süden vom 7. Oktober 2023 mit über 1.200 massakrierten Menschen. Und wohl auch den jetzt leider zu erwartenden Tod der letzten lebenden 20 Geiseln.
Wer mehr Krieg will, sollte zuvor klar sagen, dass er dafür den Tod von noch mehr Geiseln, Soldaten und Zivilisten in Kauf nimmt. Sollte Netanjahu jedoch wieder einmal klare Worte vermeiden, so die Medien, erwägt der Armeechef seinen Rücktritt. Nach gerade einmal drei Monaten im Amt.
Israels Sicherheitskabinett dürfte einstimmig für Großoffensive stimmen
Über die Ausweitung der Offensive muss noch das israelische Sicherheitskabinett entscheiden. Sie könnte sich gegen die letzten Enklaven richten, in denen die Hamas noch so etwas wie Kontrolle behalten hat: Gaza-Stadt, Chan-Junis-West, die Flüchtlingslager im Zentrum und das Evakuierungsgebiet um Mwasi im Süden mit Hunderttausenden Menschen. Hier vermuten Israels Geheimdienste die Geisel-Verstecke, meist tief unter der Erde.

Mitglieder des Sicherheitskabinetts: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Israel Katz und Itamar Ben-Gvir, Minister für Nationale Sicherheit (von links).
Das Abstimmungsergebnis sollte wie so oft in diesem Kabinett einstimmig ausfallen. Ein Teil der Minister wäre sogar für eine dauerhafte Eroberung mit neuem israelischen Siedlungsbau zu haben. Netanjahu lässt das lieber offen. Schließlich will er nicht den US-Präsidenten vergraulen, der ein baldiges Kriegsende anstrebt.
Trump will eine weitere Ausweitung des regionalen Sicherheitsbündnisses der USA mit den arabischen Ölstaaten nicht aufs Spiel setzen. Von Anfang an müsste daher eine zeitliche Begrenzung einer militärischen Besatzung festgesetzt werden.
Israel steckt tief im Dilemma
Selbst dann würde sich Israel mit einem solchen Schritt weltweiter Kritik aussetzen. Dabei steckt es bereits tief im Dilemma: Ist es der Hamas doch gelungen, die Verantwortung für das von ihr weitgehend mitverursachte Chaos und Elend bei der Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen auf Israel abzuwälzen. Deshalb forderte die Armeeführung vor einer Ausweitung der Kämpfe eine drastische Ausweitung des Nachschubs für Gazas Zivilbevölkerung.
Die Armeeführung sieht nur Sinn in einer Ausweitung, wenn der so erzeugte militärische Druck die Hamas doch noch in einen Kompromiss zwingen würde. Mit der Befreiung aller Geiseln und einem Kriegsende. Ob die Hamas dazu wirklich fähig ist, bleibt unsicher.
Netanjahu hingegen redet weiter von einer vollständigen Entwaffnung und Entmachtung der Hamas. Bei gleichzeitiger Befreiung der Geiseln. Was militärisch nicht umsetzbar ist. Israels Kabinett kann aber keine politische Alternative für eine Nachfolge der Hamas-Diktatur im Gazastreifen anbieten. Die Geisel-Verhandlungen stocken. Ein Machtwort Trumps blieb bislang aus.
Israels Regierung zeigt sich unfähig, die veränderte militärische Lage politisch zu nutzen
Die Hamas startete das Massaker am 7. Oktober 2023 in der Annahme, Israel würde hart zurückschlagen, nicht aber den Gazastreifen vollständig besetzen - wodurch die Hamas ihre weitgehende Kontrolle in bestimmten Teilen verlieren könnte. Tatsächlich kann Israels Armee die restlichen Gebiete erobern - oder einkesseln und abriegeln, unter immensen Kosten.
Israels Regierung aber zeigt sich unfähig, eine militärisch so veränderte Lage politisch zu nutzen. Die Hamas kann gegen Israel nicht siegen. Israels Regierung aber kann im Gazastreifen verlieren.
Kommentare