Isoliert und von der Realität abgeschirmt: Putins Blick auf den Krieg
Der Angriff steckt fest, die Verluste wachsen, der eigene Verteidigungsminister verbringt die meiste Zeit in einem Atombunker im Südural, und die Generäle verkünden das eine und tun das andere: Das Desaster der russischen Armee in der Ukraine überrascht selbst Russland-erfahrene westliche Militärexperten. Was aber weiß davon eigentlich der Mann, der diesen Krieg willkürlich vom Zaun gebrochen und zu seinem persönlichen Rachefeldzug gegen die Ukraine gemacht hat? Westliche Geheimdienste zweifeln immer lauter daran, dass Putin Herr der Lage ist oder sie auch nur realistisch einschätzen kann.
Alles falsch eingeschätzt
Wladimir Putin sei einer strategischen Fehleinschätzung gefolgt, als er den Angriff auf die Ukraine eröffnete, erklärt etwa der Chef des britischen Nachrichtendienstes GCHQ, Jeremy Fleming, „und seine Berater haben Angst, ihm die Wahrheit zu sagen.“ Für den Chefspion ist klar, dass der Mann im Kreml sowohl den Widerstandswillen der Ukrainer und die Geschlossenheit des Westens falsch eingeschätzt hat, als auch die Fähigkeit seiner Streitkräfte, einen raschen Sieg einzufahren: „Das ist zu seinem persönlichen Krieg geworden, und den Preis dafür zahlen unschuldige Ukrainer, aber zunehmend auch die russischen Bürger.“ Von Kriegsbeginn an schien Putin zunehmend isoliert zu handeln, seinen eigenen Willen gegen anderslautenden Ratschläge durchzusetzen. So wie gestern etwa das Einreiseverbot für EU-Spitzenpolitiker und -Abgeordnete.
Kleinlaut auf Abstand
Eindrückliche Bilder von der Kluft zwischen dem Präsidenten und seinen Beratern lieferte schon die öffentliche Sitzung im Kreml zum Auftakt der Invasion vor einem Monat. Putin saß alleine an einem Schreibtisch, seine wichtigsten Militärs und Geheimdienstoffiziere meterweit von ihm entfernt, durften nur sprechen, wenn sie gefragt wurden. Wenn Putin etwas an ihren Ratschlägen missfiel, fiel er den Ausführenden ins Wort, schnauzte sie an wie ein Oberlehrer.
Und dieses Verhältnis sei im Verlauf des Krieges nur noch schlechter geworden, bestätigt auch die US-Regierung auf Grundlage der Informationen ihrer Geheimdienste. „Putin fühlt sich von seinen Militärs in die Irre geführt, was zu ständigen Spannungen mit den Generälen geführt hat“, erläutert etwa eine Sprecherin des Weißen Hauses. „Er bekommt falsche Informationen darüber, wie die Streitkräfte scheitern und wie hart die russische Wirtschaft durch die Sanktionen getroffen wird – einfach weil sich seine engsten Berater nicht mehr trauen, ihm das zu sagen.“
Ein Eindruck, der sich auch mit den – selbstverständlich anonym geäußerten – Einschätzungen kreml-naher russischer Experten deckt. Das Umfeld Putins würde sich immer mehr in zwei Lager spalten: Eines, das für eine Fortsetzung des Krieges eintrete, das andere dafür, endlich eine Friedenslösung zu suchen.
Gegen die Generäle
Prominentester Vertreter der Kriegspartei ist ein Mann, der sich von einer Marionette am Gängelband des Kremls zu einem von Putins mächtigsten Handlangern gemacht hat: Ramsan Kadyrow, Präsident der Kaukasus-Republik Tschetschenien. Kadyrow betreibt eine Art Privatarmee, die er auch in den Ukraine-Krieg geschickt hat.
Dass er dort persönlich für Angst und Schrecken gesorgt haben soll, ist wohl eher eine plumpe Propagandalüge, doch es hat dem als grausam und skrupellos bekannten Tschetschenen einiges politisches Gewicht gebracht. Deshalb kann er es sich leisten, jetzt öffentlich Russlands Generäle abzukanzeln: Deren neue Strategie, sich auf den Osten der Ukraine zu konzentrieren, sei ein Fehler. Man müsse und man werde Kiew erobern.
Das will Putin hören, einen Waffenstillstand hält der Kreml-Herrscher ohnehin für „verfrüht“. Gegen den Krieg einzutreten, meint ein russischer Beobachter, käme derzeit „Selbstmord“ gleich.
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