IS-Rückkehrer gibt Einblicke in Terrornetzwerk in Europa
Vier Monate lang, von April bis Juli 2015, kämpfte Harry S. in Syrien für den IS. Inzwischen ist der 27-jährige Bremer wieder zurück in Deutschland, wo er eine dreijährige Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verbüßt. Nach eigener Aussage hat der Sohn christlicher Einwanderer aus Ghana mit der Terrormiliz gebrochen - in einem bemerkenswerten Interview mit der New York Times zeichnet er nun das Bild eines insbesondere in Europa gut organisierten Terrornetzwerkes: Die Anschläge werden demnach über islamische Konvertiten, die als Mittelsmänner fungieren, verdeckte IS-Agenten und Selbstmordattentäter, die gezielt rekrutiert werden, geplant.
Kontakte zu österreichischem Dschihadisten
Bekanntheit erlangte Harry S. durch ein Video, das ihn gemeinsam mit dem österreichischen Dschihadisten Mohamed M. zeigt. In dem Video, das der IS vor rund einem Jahr veröffentlichte, werden zwei angebliche syrische Soldaten getötet.
Passte ins Beuteschema
Harry S. selbst war bereits in Deutschland kriminell, beging mehrere Einbrüche und passte somit in das Schema der IS-Rekrutierer. Vor allem junge Männer, die bereits Zugang zu kriminellen Strukturen hätten, würden angesprochen, erzählt der 27-Jährige im Interview mit der New York Times. Auch Mitglieder der Pariser Zelle um Abdelhamid Abaaoud, die bei den Anschlägen von Paris im November 2015 130 Menschen tötete, waren zuvor schon als Kleinkriminelle bekannt.
Anschlagsplaner aus Syrien
Für seine Anschläge entsendet der IS gezielt Anschlagsplaner nach Europa, die die Angriffe in Auftrag geben, jedoch nicht ausführen würden. "Sie nutzen neue, radikalisierte Konvertiten“, zitiert die NYT Harry S. "Die sind sauber." Die Nachrichtendienste hätten sie noch nicht am Radar.
Diese "sauberen Mittelsmänner" würden ihrerseits dann wieder Kontakt zu jenen radikalen Islamisten aufnehmen, die bereits über das Internet mit dem IS in Syrien in Kontakt stehen und die zu einem Anschlag bereit sind.
Sollten die Aussagen von Harry S. stimmen, rückt das auch die Axtattacke in Würzburg und der Selbstmordanschlag in Ansbach, die in den vergangenen Wochen Bayern in Atem hielten, in ein neues Licht.
Wie Bild.de berichtet stand Riaz K., der das Axt-Attentat in Würzburg verübte, nach Angaben der Ermittler bis kurz vor der Tat mit einer Person im Nahen Osten in Kontakt. Über ein mögliches Netzwerk in Deutschland gibt es keine Erkenntnisse.
Viele Freiwillige aus Frankreich
Aus den Vernehmungsprotokollen der Polizei geht auch hervor, dass Harry S. seine syrischen Kontaktmänner fragte, ob es denn viele Freiwillige aus Deutschland gäbe. Die Antwort der IS-Leute: Viele Freiwillige aus Deutschland und England würden es mit der Angst zu tun bekommen. Aber: "Um Frankreich musst du dir keine Sorgen machen". Die Unterhaltung fand im April 2015 statt - sieben Monate später wurde Frankreich von den Terrorattentaten in Paris erschüttert.
Hinter den "Auslandsoperationen" der Terrormiliz soll ihr Sprecher Abu Muhammad al-Adnani stecken. Der Syrer gilt als höchste Instanz, wenn es um Anschläge im Ausland geht. Einer seiner Helfer, ein Franzose namens Abu Sulayman, ist laut New York Times für die Anschläge in Europa zuständig.
In dem Interview mit der New York Times erzählt S. auch über die Entstehung des Videos, das ihn mit dem österreichischen Dschihadisten Mohamed M. zeigt. Man sei in Palmyra mit zwei Wagen voller Kämpfer zu einem Hinrichtungsplatz gefahren. "Ein Wagen wurde vom Österreicher gefahren (...) Er fragte uns, wer die Gefangenen exekutieren will". Alle hätten daraufhin die Hände gehoben, nur er selbst nicht. Daraufhin hätten die anderen Dschihadisten ihn gefragt, warum er dann hier sei. Er habe schließlich eingewilligt, die Flagge im Video zu tragen.
Wie glaubwürdig die Aussagen von Harry S. sind, ist fraglich. In einem Interview mit dem Politmagazin "Frontal 21" des ZDF sei er bei einer Spezialeinheit des IS gewesen. In einem Interview mit Radio Bremen erzählte Harry S. bereits die Entstehungsgeschichte des Tötungsvideos im syrischen Palmyra. Demnach sei alles von Mohamed M. organisiert worden. Mohamed M. soll seit rund einem Jahr tot sein. Eine offizielle Bestätigung gibt es dafür nicht.
In den vergangenen Jahren sollen sich mindestens 810 Männer und Frauen aus Deutschland dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS) in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Circa 270 von ihnen sollen mittlerweile zurückgekehrt sein. Aus Österreich waren laut dem jährlichen Bericht der EU-Grundrechteagentur (FRA) von Ende Mai, bis 2015 rund 150 Dschihadisten in Syrien.
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