Initiative: Wie sich Europa von "unten nach oben" erneuern soll
Er will Großes anstoßen - der deutsche Autor und Anwalt Ferdinand von Schirach fordert zusätzliche Freiheitsgarantien für jeden Menschen, sechs neue Grundrechte für Europa. Sie reichen vom Umweltschutz bis zur Künstlichen Intelligenz, von der Wahrheitspflicht von Politikern bis zur Globalisierung. An der Seite von Schirachs zieht Manfred Nowak mit, als Sprecher der Initiative „Jeder Mensch“ in Österreich.
KURIER: Brauchen wir denn neue Grundrechte?
Manfred Nowak: Es geht Ferdinand von Schirach um einen Bewusstseinswandel, dass es ein anderes Europa braucht. Ein viel ökologischeres, sozial gerechteres, an den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts orientiertes Europa der Menschen.
Das betrifft die Umwelt- und Klimafrage, aber auch die Digitalisierung, die Globalisierung und die Macht der internationalen Konzerne. All diese wichtigen Themen sollen in einen Kontext von Rechten von Menschen gestellt und letztlich damit justiziabel gemacht werden.
Artikel 1 - Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 - Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 - Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Artikel 4 - Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 - Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Artikel 6 - Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten führen.
Sie sprechen von Veränderungen von "unten nach oben". Wie soll das gehen?
Es gibt ja schon die Europäische Grundrechtecharta, in der gewisse soziale Grundrechte festgeschrieben sind, und Verträge können auch verändert werden. Aber hier geht es nicht darum, dass die Staatschefs Verträge ändern. Also nicht von oben nach unten, sondern indem sich in allen 27 EU-Staaten eine breite Bewegung bildet, die der jeweiligen Regierung Druck macht.
So können auch die skeptischeren Staaten etwa wie Ungarn und Polen mit an Bord geholt werden - über deren Bevölkerung, nicht über Druck aus Brüssel.
So eine Massenbewegung von unten nach oben sind etwa die Fridays for future-Streiks. Eigentlich unglaublich: Schulkinder und Jugendliche haben eine weltweite Bewegung in Gang gebracht: Sie haben gesagt: Es reicht! Ihr zerstört unsere Welt, und wir nehmen das jetzt in die Hand.
Wie können die Forderungen solch einer Bewegung in reale Politik umgesetzt werden?
Sie sollen zu einem europäischen Konvent führen. Wir hatten so etwas ja schon einmal, aber dieser Konvent war nicht so breit aufgestellt, sondern hatte etwas Elitäres an sich. Dieses Mal soll eine demokratischere, partizipative Form gewählt werden. Aber an einem bestimmten Punkt sollen die Regierungen, EU-Parlament, und die europäischen Institutionen auch eingebunden werden.
In Artikel 1 dieser neuen, geforderten Grundrechte heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. Das wäre doch selbstverständlich, oder?
In der österreichischen Verfassung gibt es eine Grundsatzbestimmung des Umweltschutzes, aber nicht als Grundrecht, also als subjektiv durchsetzbares verfassungsgemäßes Recht.
In anderen Verfassungen gibt es das hingegen schon: In der Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und Völker findet man das bereits seit 1981. Der globale Norden hat das bisher abgelehnt, mit dem Argument, das sei zu schwer umzusetzen. Aber wir sehen jetzt, dass es Klimaklagen gibt. So hat etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die deutsche Regierung zu wenig getan hat, um den Klimawandel wirksam zu bekämpfen.
Es gibt also einen gewissen Wandel. Gerichte beginnen umzudenken.
Wenn es auf politischer Ebene zwar wunderschöne Pariser Klimaziele gibt, aber die Politik nachhinkt, um sie umzusetzen – das gilt ja auch für Österreich – dann muss man versuchen, das auf der juristischen Ebene in den Griff zu bekommen.
Aber bisher gibt es diese Rechte nicht. Ein zusätzliches Instrument muss also geschaffen werden.
In Artikel vier wird darauf gepocht, dass jeder Mensch ein Recht darauf habe, dass Amtsträger die Wahrheit sagen. Was würde das bedeuten, wenn Kanzler Kurz eine Unwahrheit nachgewiesen würde?
Wenn es stimmen würde, was dem Kanzler vorgeworfen wird - dann hätte ich laut diesem Artikel im Prinzip das Recht, es einzuklagen. Aber nicht jede Lüge ist relevant. Man müsste beweisen, dass diese Lüge mich direkt betrifft, dass ich dadurch einen Nachteil erfahre.
Kann Politik überhaupt ohne Lügen auskommen?
Es gibt- mit bestimmten Einschränkungen - kein Verbot des Lügens. Auch als Journalist darf man lügen, aber es gibt einen Ehrenkodex mit gewissen Regeln. Ex-US-Präsident Trump war ja ein klassischer Vertreter von Falschmeldungen, indem er ständig die Lüge verbreitet hat, er hätte die Wahl nicht verloren, sondern gewonnen. Was letztlich dazu führte, dass das Kapitol gestürmt wurde.
In einer Demokratie ist es richtig und wichtig, dass Amtsträger, die eine besondere Verantwortung haben, keine Lügen erzählen.
Sie fordern auch digitale Selbstbestimmung ein. Die Manipulation von Menschen soll verboten werden. Aber das passiert doch schon längst?
Das ist natürlich eine Frage, wie man diese Forderung genau formuliert, aber sie geht über den klassischen Datenschutz hinaus. Es geht um die Manipulation von Menschen durch die Verknüpfung von Daten. Natürlich ist jede Form von Werbung ein Versuch, Menschen im weitesten Sinn manipulieren also zu beeinflussen. Aber es sollte Grenzen geben.
Wir kennen das alle: Man bekommt ständig Angebote von Dingen, nur weil man etwas einmal angeklickt hat. Das ist schon eine Form von Werbung, die weit über das vor-digitale Zeitalter hinausgeht. Aber es geht nicht nur um Werbung. Es müsste auch eine besondere Verantwortung für die IT-Konzerne geben. Der Mensch darf nicht Ware werden.
Sie denken dabei an die derzeit diskutierten Lieferkettengesetze?
Unter Artikel 5 – Globalisierung – geht es darum, dass Waren und Dienstleistungen unter Wahrung der Menschenrechte hergestellt werden. Daran arbeitet die UNO schon lange: Soll es nicht einen völkerrechtlichen Vertrag geben, der die transnationalen Konzerne in ihren Lieferketten an die Menschenrechte bindet? Bisher sind USA und EU, die Industrieländer, auch Österreich, massiv dagegen aufgetreten.
Jetzt gibt es erste Ansätze, auch die EU arbeitet an einer Richtlinie. Die weltweite Öl- und Lebensmittelindustrie, die oft Natur und die Menschen ausbeuten, Stichwort: Kinderarbeit und moderne Sklaverei - diese Auswüchse der Globalisierung oder einer neoliberalen globalen Wirtschaftsordnung sind sicher eine der größten Herausforderungen, die man im 21. Jahrhundert in den Griff bekommen muss.
Wenn das nicht gelingt, wird der Umweltschutz nicht gelingen. Dann wird die ökonomische Ungleichheit weiter zunehmen, wie wir es in den letzten 30 Jähren gesehen haben. Und diese Einkommens- und Vermögensungleichheit trägt sehr viel bei zur Zerstörung der demokratischen Kultur, denn sie untergräbt den sozialen Zusammenhalt.
Hoffen Sie, dass diese Initiative genügend Menschen bei ihrem Wunsch nach Veränderung mitnimmt?
Andernfalls würde ich gar nicht mitmachen. Wir leben in einer Zeit der Umbrüche, wir sind ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Darauf muss es auch neue und unkonventionelle Antworten geben.
Wir stehen zum ersten Mal vor einer Situation, wo der Planet kollabieren könnte und wir uns selber ausrotten. Nicht nur durch Atomwaffen, sondern auch durch Klima- und Umweltkatastrophen sind wir in einer anderen Situation.
Wir sehen das auch an der Covid-Pandemie: Vor zwei Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass so was auf uns zukommt. Aber das ist ja auch kein großer Zufall, es hängt auch mit der Umweltveränderung zusammen, mit der rasant weniger werdenden Biodiversität. Wir werden mehr solche Pandemien sehen. Angesichts dieser neuen Herausforderungen muss man die Dinge eben auch mal anders andenken.
Und das gilt auch in Richtung EU?
Ich bin sehr für ein Neu-Denken der Europäischen Union. Die meisten Menschen glauben, dass die EU, wie sie derzeit dasteht, reformiert werden muss. Die Gründe sind dabei sehr unterschiedlich, von rechts bis links, aber eines nennen viele: die Bürokratisierung.
Es kann nicht sein, dass das europäische Einigungsprojekt, das im Wesentlichen einen weiteren Weltkrieg verhindern sollte, jetzt nur mehr auf der ökonomischen Ebene funktioniert. Wir brauchen auch einen sozialen Zusammenhalt und ein ökologisch verträgliches Europa.
Der Initiative „Jeder Mensch“ haben bisher rund 221.000 Menschen zugestimmt https://you.wemove.eu/
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