Hongkong: Demonstranten berauben sich ihrer Möglichkeiten
Ein weißer Lieferwagen rast auf die Menschenmenge auf der Straße zu, die Menge stiebt schreiend auseinander. Mit einer Vollbremsung hält der Wagen an, schwarz gekleidete Polizisten springen heraus, nehmen Demonstranten fest. Minuten zuvor hatten die Demonstranten die große Straße im Hongkonger Stadtteil Mongkok gesperrt, eine Barrikade errichtet, diese angezündet.
Den ganzen Abend hatten sie die Polizei in ein Katz-und-Maus-Spiel verwickelt – fast schon Routine während der seit mehr als fünf Monaten andauernden Proteste. Das war einen Tag, bevor ein Verkehrspolizist vergangenen Montag einen Demonstranten niederschoss. Und einen Tag bevor radikale Aktivisten einen pro-chinesischen Mann mit Benzin überschütteten und anzündeten.
Bei den darauffolgenden Protesten, die die Sonderverwaltungszone tagelang in Atem hielten, traf das ein, was viele Hongkonger Bürger seit Monaten fürchten: Die Gewalt eskalierte.
Aktivisten verschanzten sich in Universitäten, schossen mit Pfeil und Bogen auf die Beamten, die ihrerseits den Einsatz scharfer Munition androhten. Eine Drohung, die die Demonstranten zum Anlass nehmen werden, eine ihrer Forderungen – eine unabhängige Kommission zur Untersuchung von Polizeiverbrechen – zu erneuern.
Peking profitiert
Dass die Exekutive auf Beschuss mit Brandpfeilen reagiert, findet aufseiten der Demonstranten wenig Beachtung: „Mit rein friedlichem Protest werden wir unser Ziel nicht erreichen“, sagte der Hongkonger Oppositionspolitiker Joshua Wong der Süddeutschen Zeitung. „Allein mit Gewalt allerdings auch nicht. Wir brauchen beides.“
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Die Gewalt spielt derzeit hauptsächlich Peking in die Hände, legitimiert mehr und mehr einen wachsenden Einfluss in Hongkong, das 2047 seinen Sonderstatus verlieren und damit vollends zu China gehören wird.
Mit dem Aufräumeinsatz chinesischer Soldaten am Wochenende plus Bildern von applaudierenden Hongkongern lässt das Regime seine Muskeln spielen.
Für Peking gibt es keine Notwendigkeit einer militärischen Intervention: Laut KURIER-Informationen wollen immer mehr Polizeioffiziere Hongkong verlassen. Die vakanten Posten würden mit hoher Wahrscheinlichkeit von pekingtreuen Beamten ersetzt. Und je brutaler die Proteste werden, desto mehr verlieren sie die Zustimmung der Bevölkerung.
Die letzte Großdemonstration mit mehr als einer Million Menschen ist Monate her. Trotzdem sei der Rückhalt der Demonstranten in der Bevölkerung nach wie vor spürbar, sagt Matthias Pichler, ein Österreicher in Hongkong, zum KURIER. „Allerdings werden die Bürger schon langsam wegen der mutwilligen Zerstörung von U-Bahnstationen grantig, da das das tägliche Leben beeinflusst“. Er selbst bekomme im Alltag noch immer wenig von den Protesten mit.
Ein geplantes Auslieferungsgesetz, das es der chinesischen Regierung unter Umständen ermöglichen hätte können, unliebsame Hongkonger Bürger nach Peking ausliefern zu lassen, erregte den Zorn der Hongkonger Bevölkerung.
Im Frühsommer gingen regelmäßig Millionen von Hongkongern auf die Straße, um gegen das Gesetz zu protestieren. Regierungschefin Carrie Lam nahm im September das Gesetz vollständig zurück.
Seither richtet sich die Wut der Demonstranten direkt gegen Peking. Die Proteste eskalieren derzeit mehr und mehr.
Obwohl Regierungschefin Carrie Lams Zustimmungswerte am Boden sind, wird es den Aktivisten nicht gelingen, ihre Forderung nach ihrem Rücktritt durchzusetzen – Peking will das nicht tolerieren. Eine weitere Forderung – Straffreiheit für die mehr als 4000 festgenommenen Demonstranten – dürften sich die Aktivisten vor allem durch die Vorkommnisse der vergangenen Tage selbst verbaut haben.
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