Hongkong: Ein Tatort wird zur Festung
„Wen sollen wir rufen, wenn die Polizei auf uns schießt?“, steht auf dem Asphalt geschrieben.
Daneben ein Kreis aus ausgerissenen Pflastersteinen. Dort schoss ein Verkehrspolizist in Hongkong Montagfrüh einen 21 Jahre alten Protestler nieder. Angeblich, als dieser nach der Waffe des Beamten greifen wollte. Mindestens drei Kugeln soll der Polizist abgegeben haben. Auch ein zweiter Mann musste verletzt ins Krankenhaus gebracht werden.
Zwölf Stunden später brennen Kerzen im Eingang der U-Bahn Station Sai Wan Ho, aus der der junge Mann gelaufen war, eher der Schuss ihn lebensgefährlich verletzte. Rund herum gleicht die Straße einer Festung.
Aktivisten haben Barrikaden errichtet, aus Plastikpollern, ausgerissenen Gittern und Abfall. Steine und Scherben bedecken den Boden, aus umgestürzten Fässern läuft Öl über die Straße, auf dem die Polizisten ausrutschen sollen, wenn sie stürmen.
Doch die Beamten wirken zurückhaltend. Wann auch immer sie näherkommen, schlägt ihnen Gebrüll aus Tausenden von Kehlen entgegen. Und das sind nicht nur die schwarz gekleideten Vermummten.
Auch aus den Hochhäusern ringsum rufen die Anrainer Beschimpfungen gegen die Polizei. Und dem Risiko, von oben mit Steinen beworfen zu werden, scheinen sich die Beamten nicht aussetzen zu wollen.
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
Ausschreitungen in Hongkong
„Das sind Tiere!“
Die Wut ist groß unter den Aktivisten: „Das sind Tiere! Sie sollten uns beschützen, stattdessen schießen sie uns nieder“, empört sich eine junge Demonstrantin gegenüber dem KURIER.
Mehr als fünf Monate dauern die Proteste gegen den wachsenden Einfluss Pekings bereits an, fast wöchentlich geschehen Dinge, die die Eskalationsspirale auf beiden Seiten vorantreiben.
Einem Polizisten wurde mit einem Messer in den Hals geschnitten, am Freitag starb ein 22 Jahre alter Student, nachdem er unter ungeklärten Umständen bei einer Demonstration von einem Parkhaus gefallen war.
Fluchtgedanken der Polizisten
„China hat Zeit. Je härter Hongkonger gegen Hongkonger kämpfen, desto besser für Peking“, sagt Martin Keil, ein Österreicher, der seit Jahren in Hongkong lebt. „Ich habe schon von einigen Polizeibeamten gehört, dass sie Hongkong bald verlassen wollen.“
Diese Beamtenstellen könnten von Peking nach und nach mit Festlandchinesen nachbesetzt werden: „Und so wird Hongkong nach und nach unter chinesischen Einfluss geraten“, sagt Keil.
Die Menge brüllt auf: Drei Polizeibusse fahren an der Absperrung vorbei, sofort richten sich Laserpointer auf die Fahrzeuge, ehe sie hinter dem nächsten Hochhaus verschwinden. Vermummte schlagen Pflastersteine aus dem Gehsteig – entweder, um sie zu werfen, oder als zusätzliche Blockade auf die Straße zu legen.
Taktik und Gewalt
Diese Blockadetaktik haben sie bereits den ganzen Nachmittag lang verfolgt. Als es im Zentrum der Millionenmetropole zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war – Tränengas auf der einen, Molotowcocktails auf der anderen Seite –, zogen die Demonstranten durch die Straßen, errichteten Sperren aus allem, was sie finden konnten.
Baugerüste aus Bambus, Schutt, Möbel.
Kamen sie an in ihren Augen China-treuen Geschäften vorbei, schlugen sie die Schaufenster ein oder sprühten Schmähbotschaften darauf. Seit einigen Wochen kursiert in Aktivistenkreisen eine Liste mit Geschäften, „die zu Peking halten“, die es zu boykottieren oder demolieren gelte.
Wann immer die Polizisten die Aktivisten einholen konnten, versprengten sie sich in alle Richtungen und waren nicht mehr zu sehen. Während sich der harte Kern in Richtung Sai Wan Ho bewegte, demolierten andere U-Bahnstationen in der ganzen Stadt.
Mann angezündet
Wie sehr sich einige Demonstranten in den mehr als fünf Monaten andauernden Protesten radikalisiert haben, zeigt ein Video, in dem ein Protestler einen Mann kurzerhand mit einer Flüssigkeit übergießt und anzündet.
Der Mann hatte zuvor für Peking ausgesprochen. Er erlitt schwere Verbrennungen, sein Zustand galt als kritisch.
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