Oberst Markus Reisner, Militärstratege beim österreichischen Bundesheer, unterstreicht das im KURIER-Gespräch: „Man bekommt in Europa den Eindruck, dass das Gefühl vorherrscht: ,Die Ukrainer werden das schon irgendwie schaffen‘.“
Stattdessen wäre viel mehr Bereitschaft zur militärischen Unterstützung notwendig. Man müsse einsehen, so Reisner: „Wenn die USA nicht so massiv lieferten, wäre die Situation schon lange gekippt.“
Doch auch in den Vereinigten Staaten mehren sich inzwischen die Gegenstimmen, vor allem in der republikanischen Partei. Die Biden-Administration jagt deshalb in diesen Wochen ein Hilfspaket nach dem anderen durch den Kongress – wohl wissend, dass man die Mehrheit im Repräsentantenhaus wegen der Zwischenwahl-Ergebnisse im Jänner an die Republikaner abgeben muss.
Es braucht Luftabwehr und Munition
Am dringendsten ist die Ukraine Reisner zufolge auf Luftabwehrsysteme angewiesen, „vor allem auf jene westlicher Bauart.“ Das eigene Arsenal, das noch aus Sowjet-Zeiten stammt, sei weitgehend erschöpft, vor allem die Munition – und die werde heutzutage nur noch in wenigen Ländern hergestellt.
Auch NATO-Chef Stoltenberg hatte deshalb in Bukarest die Lieferung von Luftabwehrsystemen für die Ukraine gefordert. Schon am Freitag schloss der Norweger auch deutsche Patriot-Luftabwehrsysteme nicht aus – Deutschland hatte diese zuvor der polnischen Regierung angeboten, um ihren Luftraum zu schützen. Die Polen schlugen gleich eine Lieferung nach Kiew vor.
Grundsätzlich schätzt Reisner die Forderungen Stoltenbergs als richtig ein: „Diese NATO-Systeme sind sehr modern und potent. Das Problem ist nur: Es gibt nicht sehr viele davon.“ Um nicht nur ausgewählte Landesteile vor russischen Luftangriffen zu schützen, müssten wohl neue nachproduziert werden. Ähnlich sieht es bei der Munition für die Luftabwehr aus. Deutschland habe laut Reisner „kaum noch Bestände“ und müsste diese eigentlich schon jetzt nachproduzieren.
Die brennende Frage sei daher ohnehin, ob solche Lieferungen noch rechtzeitig ankommen würden, um die Infrastruktur zu schützen. „Leider eilen wir immer nur hinterher, während die Russen die Ukrainer vor sich hertreiben“, sagt Reisner.
Ukrainer können Ruhephase im Winter nicht nutzen
Weil im kalten ukrainischen Winter Truppenbewegungen auf beiden Seiten kaum möglich sein werden, wären die kommenden Monate Reisner zufolge die perfekte Zeit, „um die Lager zu befüllen, die Logistik aufzubessern, beschädigtes Gerät zu reparieren und neue Waffensysteme in Betrieb zu nehmen.“
Eine Phase der Wiederaufstockung also, die deutlich erschwert wird, wenn die Grundversorgung der eigenen Bevölkerung sich Tag für Tag zum Überlebenskampf auswächst. Ob mit oder ohne entsprechende Hilfe aus dem Westen: Im Frühjahr, wenn die Temperaturen wieder steigen, werden beide Kriegsparteien zwangsläufig neue Offensiven beginnen müssen.
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