Helmut Schmidt sagte: "Also, was wollen wir besprechen?"

Acht Zigaretten und ein paar Prisen Schnupftabak beim Interview
Helmut Schmidt im Interview im Jahr 2010 - über Finanzkrise, Sozialdebatte und Islam.

2010 gab Helmut Schmidt dem KURIER ein ausführliches Interview, das wir an dieser Stelle noch einmal zeigen: 

Helmut Schmidt: Also, was wollen wir besprechen?

KURIER: Ich würde mit Ihnen gerne über die Finanzkrise, die aktuelle Sozialdebatte in Deutschland, die ...

Schmidt: Moment, was Sie bisher gesagt haben, habe ich kein Wort verstanden. Ich hör’ überhaupt nichts mehr. Dieser Lautsprecher im Ohr erlaubt mir, die Hälfte von dem zu hören, was Sie sagen, die andere Hälfte muss ich kombinieren. Sie müssen in Richtung auf mich und langsam sprechen, weil der Computer hier in meinem Kopf ist vom lieben Gott und nicht von Siemens, das heißt, der arbeitet langsam.

Beginnen wir mit der Finanzkrise ...

Ist euch in Wien eigentlich klar, dass es euch besser geht als den allermeisten anderen in Europa? Eure Banken sind besser weggekommen, und wo liegt eure Arbeitslosenquote heute?

Bei 5,4 Prozent nach europäischer Berechnung, die zweitniedrigste in Europa.

Es ist schwer zu begreifen, warum eigentlich. Und die österreichischen Banken hatten sich, wie mir schien, sehr auf dem Balkan engagiert. Trotzdem sind sie ganz gut davongekommen.

Darum wollte Österreich ja das Osthilfspaket der EU.

Ja. Auch die Probleme, auf die der Sozialstaat hingeht, scheinen mir in Österreich kleiner zu sein als in Deutschland. Wenngleich sie im Prinzip ähnlich sind. Ihr habt auch eine Überalterung der Gesellschaft, Ihr habt auch sehr niedrige Geburtsraten, das wird sich fortsetzen. Wie hoch ist euer Renten-Antrittsalter ?

Das faktische liegt bei 58, das theoretische bei 65.

Das ist ja noch niedriger als bei uns, das ist furchtbar. Dabei kann es nicht bleiben. Auch 65 reicht nicht, das ist ganz zwangsläufig. Das hat gar nix damit zu tun, wer gerade regiert, ob die Konservativen oder die Sozialisten.

„Heute sind von 100 Arbeitnehmern nur noch 30 Arbeiter, 70 sind Angestellte, die leisten Dienste hinterm Schreibtisch, so wie ich. Diese Strukturveränderung hat sich in den Köpfen noch nicht durchgesetzt“

Das Problem ist aber weniger das Antrittsalter als die Tatsache, dass ältere Beschäftige abgebaut werden.

Eigentlich gibt es kaum wo in Europa eine staatliche Vorkehrung dafür, dass in zunehmendem Maße Menschen im Laufe ihres Lebens einmal, vielleicht später zweimal ihren Beruf wechseln müssen. Wir haben Berufsschulen für 17-, 18-Jährige, aber wir haben keine Berufsschulen für 45-Jährige, die auf einen neuen Beruf umgestellt werden müssen. Das heißt, Sie haben es nicht nur mit einer Anpassung des Rentensystems zu tun, sondern mit einer Anpassung des Ausbildungssystems. Das wird ein paar Jahre dauern, bis die Regierenden das begreifen, aber es wird kommen müssen.

Aber der ältere Arbeitnehmer ist offenbar zu teuer.

Ja. Aber die Gesellschaft wird es sich nicht auf Dauer leisten können, dass jemand, der mit 58 freigesetzt wird, bis zum Lebensende staatliche Rente bezieht. Eine Gesellschaft von alten Leuten ist eine andere Gesellschaft als eine, in der das Durchschnittsalter bei 35 Jahren gelegen war. Das fällt den Leuten ganz schwer zu begreifen.

Sie haben in Ihrem Buch "Außer Dienst" über Rentenkürzungen nachgedacht.

Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder die Renten zu kürzen, das wäre das bei Weitem Unpopulärste und wahrscheinlich nicht durchsetzbar. Oder aber die Lebensarbeitszeit zu verlängern bis zum 65. und darüber hinaus. Und auch am unteren Ende nicht mit 25, 26, 27 an der Universität die Zeit zu vertun statt Geld zu verdienen und Steuern zu zahlen. Im Ergebnis wird es auf eine Mischung all dieser Elemente hinauszulaufen. Und je älter die Menschen werden, umso mehr Gesundheitsfürsorge brauchen sie. Wir müssen uns zusätzlich darauf einstellen, dass die Krankenversicherungen stärker beansprucht werden.

Das heißt eine größere steuerliche Belastung?

Ich würde vermuten, dass es so kommt.

In Deutschland ist eine Sozialdebatte ausgebrochen mit Guido Westerwelles Sager vom "anstrengungslosen Wohlstand" – wie seriös ist so eine Gerechtigkeitsdebatte zu führen?

Es wäre zu wünschen, dass alle Leute, die an dieser Debatte teilnehmen, nur seriöse Argumente vorbringen. Das ist leider nicht so. Aber ob eine Debatte oberflächlich anfängt oder nicht, ist für die Ergebnisse ziemlich gleichgültig.

Der Chefredakteur Ihrer Zeit hat die Ausnutzung des Sozialstaates angeprangert.

Ich glaube, das wird übertrieben. Da reden manche Leute aufgrund von eigenen Erlebnissen, das wäre noch das Beste, oder aufgrund von Vermutungen, das wäre das Schlechteste. Wenn man sich im Bekanntenkreise umguckt, fällt es schwer, jemanden zu finden, der den Sozialstaat ausbeutet. Gewiss gibt es solche Menschen, aber ich vermute, dass die Zahl sehr viel kleiner ist, als die Geräusche in den Boulevardzeitungen vermuten lassen.

Trotzdem, was wäre ihr Rezept gegen Ausnutzung?

Die Zumutbarkeitsbestimmungen sind zu lax. Dänemark hat beinahe Vollbeschäftigung. Aber weshalb? Weil das Arbeitsamt dem Arbeitslosen eine Arbeit vermittelt, und wenn er sie nicht annimmt, wird sein Arbeitslosengeld gekürzt. Also hat er ein Interesse, die Arbeit anzunehmen.

Ist der Sozialstaat an seinen Grenzen?

Ohne die Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, ohne die sozialistischen Parteien hätte es keine Sozialversicherung gegeben. Heute sind von hundert Arbeitnehmern nur noch dreißig Arbeiter, siebzig Angestellte, die leisten Dienste hinterm Schreibtisch, so wie ich. Diese Strukturveränderung hat sich in den Köpfen noch nicht durchgesetzt, zum Beispiel in denen der sozialistischen Parteien oder der Arbeitsmarktpolitiker.

Wird es aufgrund dieses Strukturwandels auf Dauer genug Arbeit für alle geben?

Sind die gesetzlichen und tariflichen Vorschriften vernünftig, wird es immer genug Arbeit geben.

Sie meinen Deregulierung?

Das kann man so sagen. Nicht alle Regulierungen müssen wegfallen, aber sie müssen vernünftig sein.

Unpopuläre Maßnahmen können leicht zu "psychotischen Reaktionen" führen, haben Sie geschrieben.

Nirgendwo auf der Welt ist es leicht, in einem demokratisch gewählten Parlament Dinge durchzusetzen, die das Volk ablehnt. Es ist das Wesen der Demokratie, dass man gewählt wird, nicht weil die Leute einen mögen, sondern man muss einigermaßen angenehm sein für die Leute. Das verleitet dazu, dem Volk nach dem Munde zu reden. Das ist einer der Fehler der Demokratie, den man liebend mit umfassen muss.

Ist ein Radikalpopulist wie H.C. Strache rechtsaußen gefährlicher oder ein Oscar Lafontaine linksaußen?

Gefährlich sind sie beide, wer gefährlicher ist, das kommt auf die Umstände und die Person an. Nehmen Sie ein historisches Beispiel: Auf der einen Seite Hitler, auf der anderen Seite Stalin – wer von den beiden war der Gefährlichere?

"Direkte Demokratie zwingt dazu, komplizierte Probleme auf einfache Formeln zu bringen, die man mit Ja oder Nein beantworten muss. Das Leben ist nicht so einfach."

Sie haben oft vor einem Ausbau der direkten Demokratie gewarnt. Warum?

Direkte Demokratie zwingt dazu, komplizierte Probleme auf einfache Formeln zu bringen, die man mit Ja oder Nein beantworten muss. Das Leben ist nicht so einfach. Populisten finden das wunderbar, zu sagen: "Nein, wir sind dagegen." Direkte Demokratie ist bereit, Prämien auszuteilen für Populismus und Verführung.

Was unterscheidet einen Verführer wie Barack Obama von anderen politischen Verführern der Geschichte?

Ich kenne Obama nicht. Ich kann ihn nicht beurteilen.

Wie schätzen Sie seine Bilanz bisher ein?

Er hat in seinem Wahlkampf und seither eine Reihe von sehr idealistischen Reden gehalten. Und in den eineinviertel Jahren als Präsident hat er relativ wenig verwirklichen können. Das liegt nicht nur an ihm, das liegt auch an der Zusammensetzung seines Parlamentes. Die Zwischenbilanz sieht nicht sehr gut aus für Obama, aber das würde ich mich weigern, ihm persönlich zuzurechnen. Vielleicht ist er in seinen idealistischen Reden etwas weiter gegangen, als er bei realistischer Einschätzung seiner tatsächlichen Chancen hätte gehen sollen.

KURIER: Die Wirtschaft ruft gerne nach Zuwanderung. Ist das die Lösung für die besprochenen Probleme?

Helmut Schmidt: Wenn es eine Lösung wäre, würde es zugleich andere Probleme schaffen. Es hat Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen gegeben, da wurden Leute in Spanien und der Türkei angeworben. Der Grund war, den Lohnanstieg in Deutschland zu begrenzen. Was man nicht bedacht hat: Dass die Leute bleiben wollten. Viele haben sich leicht integriert, andere haben es nicht fertiggebracht. Und die deutsche Gesellschaft war auch nicht sonderlich geschickt darin.

Wer ist Schuld, wenn Integration nicht funktioniert?

Von Fall zu Fall verschieden. In den allermeisten Fällen sind beide Seiten schuld. Jedenfalls: Wenn Unternehmen sich einbilden, dass sie durch Zuwanderung soziale Probleme im eigenen Land erleichtern, dann ist das eine kurzsichtige Betrachtungsweise, die aus ihren eigenen Interessen stammt.

Und die andere Betrachtungsweise?

Deutschland hat heute bereits acht Prozent sogenannte Migranten. Nicht alle machen Probleme, aber einige schon. Und wenn gleichzeitig der Westen eine Art von Clash of Civilisations mit dem Islam zustande bringt, dann muss man sich nicht wundern, wenn sich der auch in dem Teil der Zuwanderer niederschlägt, der aus dem Islam kommt. Das Problem der Zuwanderung ist also auch eines, ob der Westen im Laufe des 21. Jahrhunderts zum ersten Mal religiöse Toleranz lernt.

Sie meinen die militärischen Interventionen?

Es ist so, dass von all den vielen angeblich humanitären und den anderen militärischen Interventionen des Westens die große Masse auf Boden stattfindet, der von muslimischen Gläubigen bewohnt wird. Das ist passiert, ohne dass das den Führern in Washington klar gewesen ist. Die sind auch von der Zuwanderung von Muslimen weniger betroffen als wir Europäer. Aber die Europäer haben auch nicht begriffen, was da passiert ist, haben nicht protestiert.

Die Basis für ein Zusammenleben ist längst verbockt?

Auf Dauer ist es unwahrscheinlich, dass man mit islamischen Minderheiten wirklich zusammenleben kann in einer Gesellschaft, die überwiegend nicht islamisch ist. Der kulturelle Unterschied ist allzu groß.

"Das ist ja einer der großen Irrtümer der westlichen Ideologen, wenn sie meinen, sie müssen ihre Demokratie auf die ganze Welt ausbreiten."

Der Islam wird in Europa zunehmend als Bedrohung empfunden. Zu Recht?

Man muss sich über die Geschichte klar sein. Von den knapp 200 Staaten auf der Welt sind ein Viertel islamisch dominiert oder muslimisch orientiert. Und fast alle waren heute vor 90 Jahren noch Kolonien europäischer Industriestaaten. Fast alle sind regiert worden auf diktatorische Weise, auch heute. Sie müssen mit der Lupe nach einem islamischen Staat suchen, der demokratisch regiert wird. Das ist ja einer der großen Irrtümer der westlichen Ideologen, wenn sie meinen, sie müssen ihre Demokratie auf die ganze Welt ausbreiten, sie müssen sämtliche Muslime und Chinesen zu Demokraten machen. Einer der vielen Fehler, die der Westen gemacht hat.

Fehler des Westens, das führt zur Finanzkrise: Die EU hat diese relativ gut bewältigt, aber die Notgroschen sind aufgebraucht. Schon droht die nächste große Blase zu platzen, wenn man Analysten und Experten folgen will. Was wäre notwendig, das zu verhindern?

Vorweg: Ich würde nie im Leben Analysten folgen. Was dringend wünschenswert, aber nicht sehr wahrscheinlich ist, wäre eine straffe Regulierung des internationalen Kapital- und Geldverkehrs. Der internationale Luftverkehr ist straff reguliert, die Flugzeuge müssen geprüft werden, die Piloten müssen Prüfungen ablegen und ihnen wird gesagt, in welcher Höhe sie fliegen dürfen. Ähnliches gilt für die Schifffahrt, da wird vorgeschrieben, wie auszuweichen ist, was für Lichter zu führen sind. Im internationalen Kapitalverkehr gibt es keine solchen Vorschriften. Da werden auch die Piloten nicht geprüft. Man ärgert sich nur darüber, dass sie mit Bonifikationen von mehreren zig Millionen Dollar davongehen. Da gibt’s keine Lichterführung, da gibt’s auch keinen Lotsenzwang. Und es ist ganz unwahrscheinlich, dass sich das ändert, weil weder Amerikaner noch Engländer mitspielen. Die Europäische Union ist zu schwach und ziemlich handlungsunfähig. Die bringt es nicht einmal für ihren Bereich zustande.

Diese Handlungsunfähigkeit liegt an ihrer Größe?

Die Union hat sich viel zu schnell vergrößert, ohne die Spielregeln angepasst zu haben. So lange die europäische Integration sechs Staaten umfasste, da konnte man mit dem Einstimmigkeitsprinzip einigermaßen leben. Jetzt sind wir 27, und ich würde mich nicht wundern, mit 27.000 Bürokraten. Und da soll es Einstimmigkeit geben? Das ist Unfug.

Das Phänomen, dass die Sozialdemokratie von der Finanzkrise nicht profitieren kann, sich die Bürger eher den Konservativen zuwenden – woran liegt das?

Ob sie sich wirklich den Konservativen zuwenden, glaube ich nicht. Richtig ist, wenn Sie konstatieren, dass in ganz Europa die ehemaligen Arbeiterparteien einen Teil ihres früher sehr großen Vertrauens eingebüßt haben. Der Grund dafür liegt darin, wir sprachen darüber, dass sie die tief greifenden strukturellen Veränderungen in der Gesellschaft nicht realisiert haben und darauf nicht richtig reagiert haben. Zum Beispiel hat es in der ganzen Krise keinen sozialdemokratischen Führer in Europa gegeben, der laut und richtig gesagt hat "Das muss gemacht werden".

Aber die Krise haben doch auch sozialdemokratische Regierungen gemeistert?

Was es gegeben hat war, dass fast alle großen Staaten der Welt die wichtigsten Banken gerettet haben, künstliche Nachfrage geschaffen haben mit allen möglichen Konjunkturprogrammen. Da sie das Geld dafür nicht hatten, haben sie’s geliehen. Wir haben uns sehr verschuldet, das wird uns drücken in den nächsten Jahren. Aber es war eine Glanzleistung, dass wir anders als 1930 nicht in eine weltweite Depression geschlittert sind. Aber die Sozialisten haben in dieser Lage keine Führung ausgeübt.

Herr Schmidt, Sie sind jetzt 91, haben den 2. Weltkrieg erlebt und den Wiederaufbau, den Kalten Krieg und die Wiedervereinigung, die Krise – auf welche Epoche steuern wir jetzt zu?

Das ist eine spekulative Frage, auf die es nur spekulative Antworten gibt. Innerhalb dieser spekulativen Antworten gibt es ein paar Elemente, die ziemlich sicher vorhersehbar sind. Dazu gehört an der Spitze die Vermehrung der Weltbevölkerung. Die Erde wird aber nicht größer. Gewaltige Wanderungsbewegungen stehen bevor. Das muss nicht zum Untergang des Abendlandes führen, aber jedenfalls schafft es Probleme, die wir uns zu Zeiten von Willy Brandt und von Bruno Kreisky noch kaum vorgestellt haben.

Apropos: Welche österreichischen Politiker haben sich Ihnen eingeprägt?

Kreisky, Vranitzky, Androsch. Und außerdem fällt mir ein anderer Wiener ein, den ich sehr geschätzt habe, der für mich eine Art menschliche Autorität war, das ist Franz König. Ja.

Wir müssen Schluss machen. Sie haben einen Haufen Zeug, Sie können das gar nicht alles verwenden.

Herr Schmidt, Danke für das Gespräch

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