Karl-Theodor zu Guttenberg: "Eine Dreierkoalition ist dem Land nicht dienlich"
KURIER: Sie haben 2011 die Politik verlassen – vermissen Sie sie manchmal?
Karl-Theodor zu Guttenberg: Keine Sekunde.
Und wenn Sie die aktuell handelnden Personen beobachten …
… vermisse ich sie noch weniger.
Sie könnten sich ja auch denken: das könnte ich besser …
Nein, das maße ich mir nicht an. Ich weiß, wie schwer dieser Job ist; die Zeiten haben sich seit meinem Abgang nocheinmal verändert, sind noch dramatischer, schnelllebiger geworden. Ich bin ein wählender, kritischer Bürger, verschwende aber keinerlei Gedanken an eine politische Tätigkeit.
Also eine Rückkehr in die Politik schließen Sie aus …
So skeptisch ich gegenüber solchen Festlegungen generell bin – das will ich tatsächlich ausschließen.
Was sagt der wählende, kritische Bürger Guttenberg zur Performance der Ampelregierung?
Kohärenz ist etwas anderes. Vermutlich ist eine Dreierkoalition dem Fortschritt eines Landes nicht dienlich. Dazu kommt noch, dass alle Partner für die jeweils eigene reine Lehre kämpfen, dabei aber nur die reine Leere erreichen.
Freilich zeichnet sich ab, dass – nicht nur in Deutschland, auch in Österreich – sich immer seltener Zweierkoalitionen rechnerisch ausgehen.
Da haben Sie recht – insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich zunehmend Parteien an den Rändern herausbilden. Trotzdem glaube ich, dass wir noch ein gutes Stück von den oft beschworenen Weimarer Verhältnissen entfernt sind. Aber es stimmt, Dreierkoalitionen könnten die Regel werden – und bedürfen dann dringend einer Anpassung durch die Protagonisten. Das, was wir die letzten Jahre gesehen haben – und das sage ich ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit –, gibt der Bevölkerung nicht das, was sie am dringendsten braucht, nämlich Vertrauen.
Wäre Friedrich Merz der bessere Kanzler?
Das wird sich im Falle einer erfolgreichen Wahl zeigen. Alles andere ist hypothetisch. Er positioniert sich meines Erachtens als klarer Oppositionschef, ist rhetorisch versiert, und nun gilt es, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Und schließlich wird er sich mit potentiellen Koalitionspartnern herumprügeln müssen. Aber aus heutiger Sicht erscheinen die Chancen nicht gering, dass er die Kanzlerschaft erringt.
Wäre es klüger gewesen, sich gleich auf ihn als Merkel-Nachfolger zu einigen?
Damals ging es ja weniger um Klugheit, als um innerparteiliche Gegebenheiten. Ein Parteitag unterliegt ja nicht nur in Deutschland ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Immerhin hat man sich bei uns nicht verzählt (lacht). Man kann es auch positiv sehen: Der dreifache Anlauf von Merz zeigt auch eine gewisse Resilienz – und die braucht man ja auch in dem Job.
Wenn Sie auf Ihre eigene politische Heimat schauen, die Unionsparteien: gibt es da eine gewisse Entfremdung?
Ich bin ein sehr frei denkender Bürger und nicht verpflichtet, mich irgendwelchen Parteivorgaben zu unterwerfen. Das halte ich auch grundsätzlich nicht für richtig, weil jede Partei auch Freigeister aushalten sollte. Es gibt Punkte, mit denen ich mich sehr gut identifizieren kann, und solche, wo ich kritisch bin.
Was wären Letztere?
Ich will jetzt keine einzelnen Themen nennen, aber ich tue mich schwer, wenn man über Jahre hinweg nicht den Eindruck einer klaren Linienführung hat. Also wenn Dinge ad hoc in den Raum geworfen werden, um bestimmte Stimmungslagen zu bedienen. Davor sind auch die beiden konservativen Parteien nicht gefeit – wahrscheinlich in München noch weniger als in Berlin.
Die Gretchenfrage der deutschen wie der österreichischen Innenpolitik lautet: Wie hältst du’s mit Rechtsaußen? Bei uns die FPÖ, bei Ihnen die AfD. Im Unterschied zu Österreich gibt es in Deutschland die sogenannte „Brandmauer“ gegenüber der AfD. Wie stabil ist die – und soll bzw. muss die Ihrer Meinung nach halten?
Ich halte es für richtig, dass diese Brandmauer existiert. Ich kann auch der Argumentation wenig abgewinnen, dass man durch eine Regierungsbeteiligung einer Rechtsaußenpartei deren „Entzauberung“ herbeiführt. Da brauche ich nur auf Österreich blicken.
Nun gibt es aber doch nicht wenige inhaltliche Überschneidungen zwischen Union und AfD – insbesondere, was die Wähler betrifft: unter den AfD-Anhängern sind zweifellos viele, die von CDU/CSU enttäuscht sind.
Na gut, aber dann ist es die Hausaufgabe der Union, diese Wähler wieder zurückzugewinnen, ohne dabei in Populismus zu verfallen. Sich über die anderen zu definieren, ist kein Zeichen von eigener Stärke, die sollte aus sich selbst heraus entstehen. Gleichzeitig muss man die offene Auseinandersetzung suchen – Totschweigen bringt gar nichts. Und wenn es tatsächlich inhaltliche Überschneidungen gibt, dann hindert einen ja niemand daran, einen eigenen Antrag zu stellen. So muss man nicht auf den Antrag der Rechten aufspringen. Aber sobald man mit Schaum vor dem Mund agiert, weil die AfD mit einem Unionsantrag mitstimmt, dann ist da auch ein Stück Verlogenheit dabei. Solches gab es ja auch immer wieder bei der SPD und Linkspartei. Zudem: Das reflexhafte Ablehnen von Unionsanträgen mit dem Ziel, diese lediglich von der AfD unterstützt zu sehen, um sich anschließend zu empören, ist ein zynisches Spiel mancher Vertreter des linken politischen Spektrums.
Aber kann es auf Dauer funktionieren, die AfD von demokratischen Prozessen fernzuhalten?
Das stimmt ja nicht, man hält sie nicht fern – sie tritt ja zu Wahlen an. Und solange Parteien wie die AfD nicht als verfassungsfeindlich eingestuft und sie verboten werden, muss man sich mit ihnen inhaltlich auseinandersetzen; aber man muss sich deswegen nicht ins Koalitionsbett mit ihnen legen – da ist der Mundgeruch am nächsten Tag dann doch meistens stärker.
War es demnach auch falsch, dass Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz mit der FPÖ eine Regierung gebildet haben?
Ich war damals nicht nahe genug dran, aber doch skeptisch. Im Nachhinein ist man immer klüger und sagt: wären sie vielleicht heute nicht so stark, wenn man das nicht gemacht hätte. Auf der anderen Seite haben Sie schon recht: die AfD ist aus der Opposition heraus so stark geworden …
Wie sieht es mit der Werteunion aus?
Ich halte sie vorerst für ein regionales Phänomen in Thüringen. Sie zieht jene an, denen die AfD zu radikal und die Union nicht konservativ genug ist. Jetzt kann man fragen, ob die Union diesen Flügel nicht offensiver hätte abdecken müssen – das ist vergossene Milch …
Aber man hätte ja aus der Abspaltung der AfD lernen können – der Grundplot war ja derselbe.
Wobei die AfD ursprünglich ja primär eine euroskeptische Partei war, ihre wirkliche Schubkraft haben sie aus der Flüchtlingskrise 2015 erhalten. Da werden erst Historiker das Urteil sprechen, wer hier die größte Verantwortung trägt.
Womit wir indirekt bei Angela Merkel wären …
Ich habe oft gesagt: Angela Merkel hat enorm viele Verdienste, und in ihrer Amtszeit ist auch viel Gutes geschehen. In der Eurokrise etwa hat sie sich um Europa und um Deutschland sehr verdient gemacht. Man wird allerdings diese 16 Jahre nicht unbedingt als äußerst reformstarke Jahre bezeichnen. Dabei wäre es sicher gut gewesen, diesem Land immer wieder zusätzliche Impulse zu geben. Alles in allem will ich aber weder eine Dornenkrone flechten noch einen Heiligenschein aufsetzen.
Die Unionsparteien führen noch das C im Namen. Wie sehen Sie denn die Rolle der Kirchen in Deutschland?
Ich sorge mich um den Status der Kirchen, insbesondere angesichts der atemberaubenden Zahl an Kirchenaustritten um den Verlust ihrer gesellschaftlichen Bindekräfte. Dabei sind sie ja noch immer so etwas wie das institutionalisierte Spiegelbild unseres – auch europäischen – Wertekanons. Deswegen verträgt Europa auch Parteien, die sich diesem christlichen Wertefundament verpflichtet fühlen. Aber die Kirchen sind im Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie ihre Rolle effektiv nach außen wahrnehmen könnten.
Sind diese Probleme hausgemacht?
Ja, es ist vieles hausgemacht. An erster Stelle die Missbrauchskrise – aber es gibt auch sonst Dinge, die die Menschen kaum noch nachvollziehen können. Zumal in der katholischen Kirche gewisse Vorgaben kaum mehr mit unserem heutigen gesellschaftlichen Bewusstsein vereinbar sind. Neben den üblichen Themen geht es aber etwa auch um das deutsche Modell der Kirchensteuer, das schon Papst Benedikt 2011 angeprangert hat.
Halten Sie von daher den deutschen synodalen Weg für zukunftsweisend?
Es ist vollkommen richtig, dass man diese Debatten führt. Die Protagonisten des synodalen Weges müssen sich nur die Frage stellen, ob ihre Herangehensweise erfolgversprechend sein kann. Im Moment ist sie es offensichtlich nicht. Ich will damit nicht Rom verteidigen, aber wenn Deutschland ein konstantes Bild der Zerstrittenheit liefert, dann fragen sich wohl einige in der Zentrale, warum man sich um dieses Land kümmern sollte, wo man doch weltweit ganz andere Probleme hat.
Aber von den Themen und Zielen würden sie den synodalen Weg unterstützen?
Bei aller Achtung vor der Gegenposition glaube ich, dass man etwa bei Frauenpriestertum und Zölibat nicht bis zum Sanktnimmerleinstag an alten Zöpfen festhalten kann.
In Österreich wurde im laufenden Wahlkampf von der ÖVP eine Leitkultur-Debatte angestoßen. Halten Sie den Begriff bzw. die Diskussion darüber für sinnvoll?
Der Begriff ist in der Welt und lässt sich kaum verbannen. Aber was man nicht wegdiskutieren kann, sollte man wenigstens in der richtigen Tonalität diskutieren. Erstaunlich ist, dass es bei solchen Debatten immer wieder dieselben Reflexe auf beiden Seiten gibt. Dabei ist der Diskurs darüber absolut berechtigt – und man kann gegen oder für eine Leitkultur sein. Bei den Befürwortern wäre es wichtig, dass man in der Begründung so differenziert auftritt, dass man nicht zusätzliche Gräben aufreißt.
Die Sujets der ÖVP haben für sehr viel Kritik und auch Spott gesorgt, Stichwort: Blasmusik als „Leit-Kultur“ statt Multikulti.
Die Gefahren entstehen, wenn man sich einer Verkürzung unterwirft. Man darf in der Politik, zumal in Wahlkämpfen, durchaus auch provozieren, aber die Leute müssen das Gefühl haben, dass dahinter ein substanzielles Gerüst steht. Aber natürlich gilt das auch für die andere Seite – auch deren Motive sind nicht immer nur hehre. Bei Multikulti ist es ja ähnlich: für die einen ein Kampfbegriff, für die anderen die Rettung der europäischen Gesellschaft. Auch das sind Verkürzungen.
Ist nicht dieser Themenkomplex – Integration, Migration etc. – die Achillesferse der traditionellen konservativen Parteien gegenüber der Konkurrenz am rechten Rand?
Sie stellen die richtige Frage. Aber in einer Zeit, in der oft nur noch das Lauteste, Gehässigste es in die Filterblasen der sozialen Medien schafft, ist es schwierig, sich mit einer substanziellen, intellektuell fundierten Position durchzusetzen. Man muss es freilich trotzdem versuchen. Der größte Fehler wäre es jedenfalls, in die gleiche gehässige Tonalität der Rechten zu verfallen.
Aber hat man hier nicht den Rechten das Feld überlassen. Der berühmte Satz „Wir schaffen das“ ist ja gleichsam zur Chiffre für das Problem geworden.
Was wäre die Alternative? Islamfeindliche Sprüche? Nein. Ist es ein Versagen, wenn man versucht, Grundmuster des Anstands beizubehalten? Glaube ich nicht. Man muss auch sehen, dass es noch immer 60 bis 70 Prozent sind, die sich in der Mitte verorten und nicht an den Rändern. Umso bedrückender ist es, welche Selbstzerlegungstendenzen wir in der Mitte haben. Statt die Auseinandersetzung gemeinsam und gezielt zu suchen, ist beispielsweise die Regierung hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.
Mitte klingt zwar sympathisch, aber die Differenzen etwa zwischen Grünen und FDP sind doch eklatant.
Sie sind eklatant, weil wir sie eklatant machen. Was auch von den handelnden Personen befördert wird. Aber vom gesamten Weltbild und der Grundeinstellung sind meines Erachtens CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP nicht so entfernt voneinander wie ein Herr Höcke von jeder dieser Parteien. Man kann unterschiedliche Ansichten so untereinander ausraufen, dass dabei keine Leichen liegen bleiben. Grüne, Sozial- und Christdemokraten müssen einander nicht als Todfeinde begreifen.
Einmal noch zu Angela Merkel: Einer ihrer Gegenspieler auf europäischer Ebene jedenfalls in der Migrationsfrage war jemand, über den Sie sich immer sehr positiv geäußert haben, nämlich Sebastian Kurz. Wie sehen Sie ihn heute?
Zum einen bin ich mit Sebastian Kurz befreundet – unabhängig vom politischen Zirkus. Ich fand es damals ganz wohltuend, dass das ach so starke Deutschland auch einmal Gegenwind in der EU verspüren musste und dass der aus dem Süden kam. Und ich hatte den Eindruck, dass man sich mit Kurz sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene auseinandergesetzt hat und auseinandersetzen musste. Wien war damals also durchaus in der Lage, Berlin einmal den Ellbogen zu zeigen.
Wie passt das aber zu Ihrer Verteidigung Merkels?
Ich habe bei Merkel gesagt, das Urteil werden die Historiker fällen. Es ist noch zu früh, Ereignisse von 2014 bis 2021 abschließend zu bewerten. Da habe ich mir auch noch kein endgültiges Urteil gebildet. Ich denke aber, dass die Positionierung, die Kurz auf europäischer Ebene damals eingebracht hat, auch berechtigte Punkte beinhaltete. Es hat der europäischen Debattenkultur nicht geschadet – und es hat in Deutschland innerhalb der Union Diskussionen ausgelöst, die es eventuell nicht gegeben hätte, wenn dieser Impuls aus Wien nicht gekommen wäre.
Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg
geb. 1971 in München; 2009 Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Merkel, dann (Merkel II) bis 2011 Verteidigungsminister, Rücktritt als Folge einer Plagiatsaffäre, seither Tätigkeit u. a. als Unternehmens- und Investmentberater; seit 2023 betreibt er mit dem Linkspolitiker Gregor Gysi einen wöchentlichen Podcast („Gysi gegen Guttenberg“)
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