Grönland: Wo die jungen Männer sterben

Grönland: Wo die jungen Männer sterben
Nirgends ist die Suizidrate höher als im Osten der größten Insel der Welt. Die Gründe sind vielfältig, die Lösungen komplex.

In einer kleinen, etwas abgeranzten Hafenkneipe in Tasiilaq an der Ostküste Grönlands hat ein junger Mann das Bedürfnis zu reden.

Kaum hat sich Lars, so soll er in dieser Geschichte heißen, mit gleich drei Heineken-Flaschen in der Hand ungefragt an den Tisch dazu gesetzt, legt er los.

„Schon früher haben sich zwei meiner Geschwister das Leben genommen“, erzählt er ansatzlos, „und gestern Nacht mein bester Freund“. Jetzt muss er mit jemandem darüber sprechen, fährt er fort. Auch wenn es ein Fremder ist, „sonst werde ich verrückt“.

Besonders hoch ist die Rate unter männlichen Jugendlichen

Klingt brutal, ist es auch. Doch Lars’ Geschwister und sein bester Freund sind keine Einzelfälle, Grönland weist die höchste Suizidrate der Welt auf. 79,6 von 100.000 Einwohnern der gigantischen, spärlich besiedelten Eis-Insel haben im Jahr 2022 versucht, sich das Leben zu nehmen. 

Besonders hoch ist die Rate mit 107,3 unter männlichen Jugendlichen. In Dänemark und auch Österreich ist es ein Zehntel davon. Doch woran liegt das?

Wie auch andere indigene Völker von Australien bis Kanada kämpfen die Inuit, die rund 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, mit massiven sozialen Problemen. Die Folgen sind so hässlich wie in solchen Fällen klassisch: Alkoholismus, häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch stehen an der Tagesordnung. Natürlich sind Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit nicht vom Himmel gefallen. Weltweit kämpfen Indigene mit den Folgen von Kolonialisierung und kultureller Entwurzelung.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts realisierte die Kolonialmacht Dänemark, dass auch auf der anderen Seite der Insel Menschen leben

In Grönland ging das alles aber deutlich schneller – insbesondere im entlegenen Südosten, in Tasiilaq. Erst Ende des 19. Jahrhunderts realisierte die Kolonialmacht Dänemark, dass nicht nur an der Westküste rund um die Hauptstadt Nuuk, sondern auch hier auf der anderen Seite der Insel Menschen leben. Innerhalb weniger Generationen wurde diese Gesellschaft aus nomadischen Jägern und Fischern in die Moderne katapultiert – und verlor dabei ihre Wurzeln, sagt Områdechefin (Bezirkshauptfrau, Anm.) Hjørdis Viberg.

Dazu kommt ein innergrönländisches West-Ost-Gefälle. Die Gegend um Tasiilaq bildet einen Verwaltungsbezirk mit der 650 Kilometer entfernten Hauptstadt Nuuk, wo man sich lange Zeit wenig für die Kleinstadt im fernen Osten interessiert hat. 

Weil man dieses Problem vor einiger Zeit erkannt hat, wurde Viberg als Bindeglied eingesetzt, um in weiterer Folge die soziale Situation zu verbessern. Eine schwere Aufgabe: Rund ein Drittel der knapp 3.000 Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde sind unter 18 Jahre alt, die Hälfte von ihnen lebt jedoch nicht bei ihren Eltern. Jeder vierte Bub erlebt seinen 18. Geburtstag nicht.

Ein spezifisches Problem der Region ist der in der jahrelangen Vernachlässigung begründete Mangel an Wohnraum, sagt Viberg. Dazu fehlen Arbeitsplätze und somit wirtschaftliche Perspektiven. Der mit Abstand größte Arbeitgeber ist die öffentliche Verwaltung, sonst gibt es neben dem – überschaubaren – Tourismus nicht viel.

"Wir müssen es schaffen, dass die Menschen wieder stolz auf ihre eigene Kultur sind"

Zumindest dieses Problem soll im kommenden Jahr etwas gelindert werden, hoffen zumindest Viberg und der Rest der Gemeinde. Dann soll eine lang ersehnte Fischkonservenfabrik gebaut werden und nicht nur direkt Arbeitsplätze schaffen, sondern auch den lokalen Fischern zu einem besseren Einkommen verhelfen.

Das tieferliegende Problem wird sich hingegen nicht so schnell lösen lassen. „Wir müssen es schaffen, dass die Menschen wieder stolz auf ihre Kultur sind“, sagt Viberg. Dazu benötigt es aber wiederum die Eltern als Vorbilder, von denen die Kinder diesen Stolz lernen können. Ein langer Weg.

Ein solcher liegt auch vor Lars, aber auf andere Art. Er will Tasiilaq schweren Herzens verlassen, um als Matrose zu arbeiten. „Ich will Geld verdienen. Um zu überleben, um Rechnungen zu bezahlen. Und um meine Mutter stolz auf mich zu machen.“

 

Unterstützung in Krisen finden Sie hier:

Wer Suizid-Gedanken hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits das Sprechen über die Gedanken dabei, sie zumindest vorübergehend auszuräumen. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist, kann sich an die Telefonseelsorge wenden: Sie bietet schnelle erste Hilfe an und vermittelt Ärzte, Beratungsstellen oder Kliniken. Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Depressionen betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge in Österreich kostenlos unter der Rufnummer 142.

Das österreichische Suizidpräventionsportal www.suizid-praevention.gv.at bietet Informationen zu Hilfsangeboten für drei Zielgruppen: Personen mit Suizidgedanken, Personen, die sich diesbezüglich Sorgen um andere machen, und Personen, die nahestehende Menschen durch Suizid verloren haben. Das Portal ist Teil des österreichischen Suizidpräventionsprogramms SUPRA des Gesundheitsministeriums. 
Rat auf Draht ist die österreichische Notrufnummer für Kinder und Jugendliche. Die Nummer ist unter 147 rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar. Die Ö3-Kummernummer ist unter 116 123 täglich von 16 bis 24 Uhr und ebenfalls anonym erreichbar. Auch auf der Website www.bittelebe.at finden Angehörige/Freunde von Menschen mit Suizidgedanken Hilfe.

Kommentare