Von Graz nach Grönland: Besuch bei Österreichs erster Polarstation
Wolfgang Schöner steht unterhalb des Mittivakkat-Gletschers auf der Ammassalik-Insel vor der Ostküste Grönlands und ist voll in seinem Element. Mit weit ausholenden Gesten erklärt der Glaziologe, warum die Universität Graz – dank der Initiative von Christian Palmers – ausgerechnet hier eine Außenstelle eröffnet.
Und seine Gründe, das sei vorweggenommen, sind ausgesprochen gut.
Direkte Auswirkungen auf Mitteleuropa
Grönland ist eine raue, ursprüngliche, eindrucksvolle Region. Und eine von zentraler Bedeutung für das Weltklima. Der bis zu drei Kilometer dicke Eisschild ist einer der viel zitierten Kipppunkte: Ab einem gewissen Verlust an Eismasse wäre sein totales Abschmelzen nicht mehr zu verhindern. Die Folge wäre ein globaler Meeresspiegelanstieg um sieben Meter – wenn auch erst in ferner Zukunft.
Doch Kipppunkte beeinflussen sich auch gegenseitig. Gelangt zu viel Süßwasser in den Nordatlantik, wird, vereinfacht gesagt, der Golfstrom weiter abgeschwächt. Und: Je wärmer die Arktis, desto schwächer werden die Jetstreams und desto stabiler Wettersysteme wie etwa Hitzeperioden in Mitteleuropa.
Anwendung für heimische Gletscher-Expertise
Genügend Gründe also, auch aus österreichischer Sicht dem Eisschild Aufmerksamkeit zu schenken. Wobei die Grazer gar nicht dort forschen, sondern eben am Mittivakkat. Doch auch das hat einen guten Grund, denn „kleine Gletscher reagieren viel intensiver auf den Klimawandel als das Eisschild“, betont Schöner – die Mechanismen sind aber sehr ähnlich.
Zudem sind am Eisschild bereits viel mehr Forschungsgruppen aktiv als auf den vorgelagerten Gletschern – und die Österreicher haben aus naheliegenden Gründen viel Erfahrung mit kleinen Gletschern.
Nicht zuletzt Schöner selbst: Über die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG, mittlerweile Geosphere Austria), das Sonnblick-Observatorium und Spitzbergen führte ihn sein Weg nach Graz – und nun zum Mittivakkat.
Lange Forschungstradition
Für dessen Wahl als Forschungsobjekt es übrigens noch einen weiteren Grund gibt: Der Mittivakkat ist einer der längst und somit best erforschten Gletscher Grönlands. Schon seit 1972 ist die Universität Kopenhagen hier aktiv. Irgendwann verschob sich der Fokus der Dänen in den Westen der Insel, doch die durchgängige Datenbasis ist vorhanden.
Anflug auf den Mittivakkat-Gletscher
“Forschungsmäßig ist das ein ungehobener Schatz“, sagt Schöner. Den wollen die Grazer heben, und darum gibt es an der nahe gelegenen Sermilik-Forschungsstation nun ein schmuckes, neues Gebäude mit Platz für 25 Personen und einem grünen Steiermark-Herz an der Türe.
Großzügiges Angebot dankbar angenommen
Angebracht hat es Uni-Graz-Rektor Peter Riedler höchstpersönlich, dem die Freude über den neuen Außenposten anzusehen ist. „Wir haben Herrn Palmers Angebot gerne aufgenommen, weil es sehr gut zu unserem Forschungsschwerpunkt ’Climate Change’ passt“, sagt Riedler.
Der Biologe und Enkel des Gründers des Palmers-Imperiums trat vor mittlerweile sieben Jahren mit dem Angebot an Schöner heran, eine Forschungsstation zu finanzieren.
Zwischen Angebot und Bau lag jedoch neben und vor einer Menge logistischer auch eine ebenso große Menge bürokratischer Herausforderungen.
Komplexe Bürokratie
In Grönland kann man kein Land kaufen, man muss es von der Regierung zugewiesen bekommen. Zusätzlich musste eine Kooperationsvereinbarung mit der Universität Kopenhagen abgeschlossen werden, mit der Sermilik künftig gemeinsam betrieben wird – wenn auch federführend von Graz aus.
Am Ende wurden aber nicht zuletzt dank eines motivierten Juristen der Universitätsverwaltung alle Hürden überwunden, wie Rektor Riedler - selbst Jurist - betont.
Und auch wenn hinter der Türe mit dem grünen Herz noch nicht alles fertig ist, soll im Sommer 2024 wie geplant der reguläre Betrieb aufgenommen werden. Die Verzögerung liegt ironischerweise auch am Klimawandel: Weil der Sermilik-Fjord lange voller Eisberge war, konnten die Transportschiffe nicht zufahren.
Winternutzung wäre möglich
Ob die Station ganzjährig betrieben wird, steht noch nicht fest. Riedler verweist auf den Kostenfaktor, man müsse sich das noch genauer durchrechnen. Zwar wird Sermilik noch mit einer 100 kWp-Photovoltaikanlage ausgestattet, im Winter wird man aber hauptsächlich auf den Dieselgenerator zurückgreifen müssen.
Die Voraussetzungen für den Winterbetrieb haben Schöner und sein Mitarbeiter Robert Galovic, die das neue Haus federführend geplant haben, jedenfalls vorsorglich geschaffen.
Haus je nach Bedarf nutzbar
Nicht nur durch Heizung und frostsichere Wassertanks, sondern auch durch einen besonderen Kniff: „Die Station kann modular betrieben werden, um dadurch Energie und Kosten zu sparen“, erklärt Galovic. Je nach Besetzung können einer, zwei oder alle drei Teile des Hauses beheizt werden - oder eben nicht.
Anflug auf die Sermilik-Station
Gut durchdacht, denn die volle Kapazität von 25 Personen wird nur im Sommer ausgeschöpft werden, wenn die Station für die Lehre genutzt wird.
Zwar ist die Anreise über Island langwierig und teuer und wie jeder Flug verursacht auch dieser CO2-Emissionen. „Aber es ist wichtig, mit den Studierenden herzufahren, damit sie das selbst sehen und erleben“, sagt Schöner. „Als Wissenschafter kann ich die Welt nicht nur vom Computer aus verstehen, ich muss auch raus und meine Thesen überprüfen.“
Nationale und internationale Zusammenarbeit
Weil es aufgrund des großen Aufwands nur wenige solcher Arktis-Stationen gibt, wird das neue Haus in Sermilik nicht nur von der Uni Graz genutzt werden. Über den Forschungsverbund Austrian Polar Research Institute (APRI) - Direktor: Wolfgang Schöner - bekommen heimische Hochschulen Zugang; doch auch internationale Kooperationen streben die Steirer an.
Einerseits, weil Zusammenarbeit über Grenzen hinweg in der Wissenschaft nicht nur üblich, sondern auch höchst sinnvoll ist. Andererseits, weil eine solche Nutzung durch andere Forschungsgruppen der Universität Taggelder bringt, die die laufenden Betriebskosten reduzieren, wie Rektor Riedler nüchtern anführt.
Denn durch Palmers’ Spende sind zwar die Errichtungskosten von rund 1,8 Millionen Euro großteils abgedeckt, der laufende Betrieb kostet die Universität aber auch rund 100.000 Euro pro Jahr.
Die ersten Interessenten legten ausgerechnet während des Besuchs der österreichischen Delegation am Ponton-Pier an: Forscher der Universität Aarhus erwägen, den Standort für ihre Methan-Messungen zu nutzen.
Angewandte Grundlagenforschung
Gemessen wird aber auch jetzt schon: Etwa die Wassermenge, die vom Gletscher in den Fjord abfließt. Auch Höhenprofile aus Temperatur und Feuchte werden per Drohne erstellt.
Denn auch wenn die Rechnung ’Temperaturanstieg ist gleich stärkere Gletscherschmelze’ zulässig ist, „ist sie doch stark vereinfachend“, erklärt Schöner. Wer wie er die komplexen Energieflüsse zwischen Eis und Atmosphäre verstehen will, braucht daher mehr als ein Thermometer.
Im Kern ist es Grundlagenforschung, um die es hier geht; doch mit konkreten Anwendungsmöglichkeiten. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse sollen etwa Modelle entwickelt werden, den künftigen Masseverlust und den dadurch ausgelösten Meeresspiegelanstieg besser vorhersagen zu können. Denn eines steht außer Frage, sagt Schöner: „Der Masseverlust der Grönlandgletscher hat deutlich zugenommen.“
Zwar kommt durch Niederschläge im Winter immer noch mehr dazu als im Sommer wegschmilzt. Dennoch ist die Bilanz seit Beginn der 2000er-Jahre klar negativ. Der Grund dafür ist das Kalben der Gletscher. Jedes Jahr steigt der Meeresspiegel alleine dadurch um sieben Millimeter. Warum genau sich das Kalben des Grönlandeises vor 20 Jahren plötzlich so beschleunigt hat, ist eines der Dinge, die Schöner herausfinden will.
Forschung für die Menschen vor Ort
Und es gibt noch ein Phänomen, dem sich die Grazer Forscherinnen und Forscher hier widmen werden: Piteraqs. Die eiskalten Fallwinde können über 300 km/h erreichen und verheerende Zerstörungen anrichten. Die Kleinstadt Tasiilaq, von der aus Sermilik versorgt wird, ist davon besonders betroffen.
Wie sich Stärke und Intensität der Piteraqs durch den Klimawandel verändern, ist jedoch unerforscht. „Und uns war es wichtig, etwas zu machen, das für die lokale Bevölkerung relevant ist“, sagt Schöner.
Zu oft würden Forschende irgendwo einfliegen, etwas messen und wieder verschwinden, ohne sich mit den Menschen vor Ort zu beschäftigen.
In Tasiilaq wird dieses Bemühen anerkannt – wie auch, dass für die Forschung auf lokale Beobachtungen zurückgegriffen werden soll. „Und wer weiß“, sagt Schöner bei einem Treffen mit dem örtlichen Wirtschaftsrat, „vielleicht forscht ja eines Tages jemand aus dem Ort an der Station“.
Die Freude darüber wäre beiderseitig – eindeutig.
Die Reise erfolgte auf Einladung der Universität Graz.
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