Georgien-Wahl: "Unsere Stimmen wurden gestohlen"
von Raphael Bossniak
Als die Europahymne erklingt, leuchtet ein Lichtermeer auf. Die Demonstranten, die sich vor dem Parlament in der georgischen Hauptstadt Tiflis drängen, schalten ihre Smartphone-Taschenlampen ein. Manche legen ihre Hand aufs Herz, bewegen ihre Lippen im Takt. Zehntausende Georgier, die Opposition spricht von 75.000 Menschen, gingen am Montagabend in Tiflis auf die Straßen. Sie sind wütend.
„Unsere Stimmen wurden gestohlen“, sagen Davit und Tengo, die beide Georgien-Fahnen um ihren Hals gebunden haben. Die Opposition spricht von Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen am Wochenende, die der regierende „Georgische Traum“ trotz schlechten Umfragen überraschend gewann.
Opposition boykottiert Parlament
Sie war der Stargast des Abends: Eng von Sicherheitsleuten umringt und von Jubel und Trillerpfeifen begleitet, bahnt sich Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili einen Weg durch die Menge. Sie gilt als Vermittlerin zwischen den miteinander verfeindeten Oppositionsparteien. „Sie haben euch eure Stimmen gestohlen und versucht, euch eure Zukunft zu stehlen. Das werden wir nicht zulassen“, sagt die pro-europäische Präsidentin.
Der durch Surabischwili vermittelte Plan der Opposition: Keinen Einzug ins Parlament, bis nicht Neuwahlen stattgefunden haben. „Dieser Kampf mag seine Zeit dauern, aber wir werden nicht aufgeben, das schwöre ich“, ruft Giorgi Vashadze, der die Forderungen der Opposition präsentiert, von der konservativen Vereinten Nationalen Bewegung ins Mikro.
Die zentrale Wahlkommission hat nun angekündigt, die Stimmzettel in rund 14 Prozent der Wahllokale neu auszählen lassen zu wollen. Die Behörde werde eine Neuauszählung der Stimmzettel "in fünf zufällig ausgewählten Wahllokalen in jedem Wahlbezirk vornehmen", hieß es am Dienstag in einer Erklärung.
Zwei Tage sind seit der Wahl verstrichen. Hat die Opposition zu langsam reagiert? Nein, sagt Oppositionspolitiker Nika Gvaramia, der fortlaufend Hände seiner Anhänger schütteln muss, im Gespräch mit dem KURIER. Gvaramias Wahlallianz „Koalition für Veränderung“ erreichte bei den Wahlen den zweiten Platz. „Es ist aufwendig, die Wahlmanipulation zu dokumentieren. Wir haben uns ein klares Bild gemacht und werden der ganzen Welt zeigen, wie unsere Wahl gestohlen wurde“, so Gvaramia, der früher einen oppositionsnahen TV-Sender geleitet hatte. „Wir werden diese Wahl für null und nichtig erklärt sehen.“
Betrogen und erlogen?
„Das Ergebnis hatte nichts mit der Realität, die ich in den Wahllokalen gesehen habe, gemein“, sagt die Jus-Studentin Ani, die als Beobachterin in einem Wahlbüro in Tiflis vor Ort war. „Die Regierung hat überall verloren.“ Gerade in den großen Städten rasselten die Ergebnisse des „Georgischen Traum“ nach unten, doch am Land erreicht die Partei Achtungserfolge. Von hier kommen auch die größten Wahlbetrugsvorwürfe.
Die internationalen Beobachter der OSZE, EU und NATO, auf die sich mittlerweile sowohl Regierung als auch Opposition berufen, sprachen von einer „kompetitiven Wahl“, kritisierten aber eine „Atmosphäre des Drucks“ und „zahlreichen Vorkommnisse“. Die Vorwürfe von Wahlbetrug seien „reine Behauptungen“, sagt ein Regierungsvertreter.
„Wir wollen doch alle in die EU. Wie kann dann eine anti-europäische Partei wie der ‚Traum‘ gewinnen?“, fragt Ani frustriert. Doch mit einem EU-Beitritt, den fast 90 Prozent der Georgier laut Umfragen unterstützen, warb auch der „Georgische Traum“. Das trotz wiederholter Kritik der EU am georgischen Kurs: Besonders das kontroverse „Transparenz-Gesetz“, das laut Regierung aus dem Ausland finanzierte NGOs dazu zwingen soll, ihre Finanzen offenzulegen, überschattet die Beziehungen mit Brüssel.
Die Opposition, die das Gesetz als Einschüchterungsversuch gegen Regierungskritiker verstand, mobilisierte im Frühling auf den Straßen gegen das Gesetz: „Sie haben Wasserwerfer und Gas gegen uns eingesetzt. Es war furchtbar“, erzählt Elene, die bei den Frühlingsdemos dabei war. Sie trägt auch bei den neusten Protesten eine Schutzbrille. „Gegen Pfefferspray. Nur, falls was passieren sollte“, erklärt sie.
Orban unerwünscht
Zornige Rufe und Beleidigungen vor dem Marriott Hotel nahe dem Parlament. Hier ist Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban einquartiert, der am Dienstag mit einer Visite dem „Georgischen Traum“ den Rücken stärken möchte. „Wer ein Freund unserer Regierung ist, ist kein Freund des georgischen Volkes“, so die Demonstrantin Nino einige Meter vor dem Eingang des Hotels entfernt, vor dem einige Sicherheitsleute die Menge argwöhnisch beobachten. Doch während Ungarn das Wahlergebnis anerkennt, fordern EU und USA Klarheit über die Wahlbetrugsvorwürfe.
„Wenn uns der Westen unterstützt, haben wir Hoffnung“, meint Nino. Noch ist der Elan da, doch manche fragen sich, ob die Opposition es wirklich schaffen kann, die Wahl zu drehen. Ein ähnlicher Parlamentsboykott im Jahr 2020 scheiterte damals: Die EU vermittelte schlussendlich einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition. Droht sich 2020 zu wiederholen? „Die Angst ist da“, sagt ein Demonstrierender, der anonym bleiben möchte.
Kommentare