Frieden will auch Victoria, „doch dieser kann unter dieser Regierung nicht entstehen“, sagt sie zum KURIER. Ein Indiz dafür sieht sie in den Verhaftungen von Joshua Wong, einem bekannten Aktivisten, und einiger anderer Protestler, die Freitagfrüh von der Hongkonger Polizei festgenommen wurden. Mittlerweile ist Wong wieder auf freiem Fuß, ebenso seine Stellvertreterin Agnes Chow.
„Doch selbst wenn das nicht passiert wäre, wir hätten trotzdem weitergemacht. Herr Wong ist nicht unser Anführer. Als demokratische Bewegung haben wir keinen Anführer“, sagt sie kämpferisch. „Das ist ein Kampf für unsere Grundwerte. Wir hoffen, dass Hongkong ein Vorbild für ganz China wird. Wir wollen auf friedliche Art und Weise gewinnen.“
Für Samstag war eine Großdemonstration, organisiert von der „Civil Human Rights Front“, der größten Protestorganisation, geplant gewesen. Nachdem die Polizei sie verboten hatte, sagte die Organisation die Demonstration ab. „Das tun sie, damit sie für etwaige Ausschreitungen keine Verantwortung übernehmen müssen“, sagt eine Aktivistin.
"Gemeinsam spazieren gehen"
Auf die Frage, ob sie am Samstag ebenfalls demonstrieren werde, antwortet Victoria mit unschuldigem Blick: „Demonstrieren? Aber nein. Ich werde shoppen gehen, mir das Wetter ansehen – genau wie Tausende andere auch. Es ist doch kein Verbrechen, wenn wir alle gemeinsam spazieren gehen.“ Da die Hongkonger Polizei gegen „Spaziergänge“ vorerst keine juristische Handhabe hat, ist das ein probates Mittel der Hongkonger Demonstranten.
Und eine weitere Taktik kommt am Samstag zum Einsatz: Die „Gebetswanderung für Sünder“, ein Marsch, der vorgibt, eine religiöse Veranstaltung zu sein – „alle Religionen willkommen“, steht auf dem Flyer. Denn auch gegen religiöse Veranstaltungen dürfen die Hongkonger Behörden nicht vorgehen.
Dass es heute friedlich zugehen wird, schließen die meisten aus. Zu viel ist am vergangenen Wochenende passiert, zu groß ist das Misstrauen zwischen Demonstranten und Regierung. Erstmals in den seit drei Monaten andauernden Protesten gab ein Polizist vergangenes Wochenende einen Warnschuss ab, nachdem Demonstranten ihn und seine Einsatzgruppe in die Enge getrieben hatten.
Der ursprüngliche Grund für die Demonstrationen ist das umstrittene Auslieferungsgesetz, das es Hongkong möglich machen würde, Menschen an Peking auszuliefern. Obwohl Regierungschefin Carrie Lam kurz nach den ersten Großdemonstrationen verkündete, das Gesetz sei tot, sind die Aktivisten nicht zufrieden damit: „Es ist nicht tot, wie Carrie Lam sagt. In unserem Rechtssystem gibt es nur zwei Möglichkeiten: das Gesetz zurückzuziehen oder es umzusetzen. Sie hat es nicht offiziell zurückgezogen“.
Lam muss einen Spagat zwischen der Bevölkerung und Peking schaffen, doch dieser scheint ihr auf beiden Seiten zu misslingen. Das Vertrauen der Bürger in ihre Person ist auf einem historischen Tiefstand, 70 Prozent der Hongkonger unterstützen die Protest-Bewegung. Trotzdem wächst die Sorge, dass China einmarschieren könnte.
„Würde das passieren, hätte Hongkong ein großes Problem. Denn ich denke nicht, dass dann noch viele Länder dort investieren würden. Und über Hongkong laufen 60 Prozent aller internationalen Investitionen nach China“, sagt Victoria. Auch der Sohn des älteren Mannes beim Café wird am Samstag demonstrieren: „Ich kann ihn einfach nicht verstehen“, sagt der Mann.
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