Frust über Corona-Ausbruch bei Tönnies: "Irgendwann musste der Tag kommen"
Für die Menschen hinter dem Bauzaun gibt es kein Entkommen: Wollen sie an die frische Luft, müssen sie vor die Tür. Dort knallt die Sonne runter, und sie schauen direkt in die Kamera eines belgischen Fernsehteams. Eine Gruppe Männer stellt sich zusammen, die Hände in der Hosentasche. Eine Mutter mit Kind an der Hand winkt und lächelt etwas unsicher. Eigentlich gibt es hier nichts zu lachen: Die Bewohner der Siedlung in Sürenheide bei Verl (Nordrhein-Westfalen) sind unter Quarantäne und quasi eingesperrt. Über den Zaun reicht ihnen ein junger Mann einen Sack mit Gemüse, eine Lieferung aus dem einzigen Supermarkt in der Siedlung.
Mehr als 1.500 Beschäftigte sind infiziert
Viele Bewohner kommen aus Polen oder Rumänien und arbeiten im zirka 15 Kilometer entfernten Rheda-Wiedenbrück bei Tönnies, Deutschlands größtem Fleischverarbeiter. Er gilt als Verbreitungsort des bis dato gewaltigsten Infektionsgeschehens in Deutschland. Mehr als 1.500 Beschäftigte haben sich nachweislich infiziert. 38 Menschen mit Bezug zu Tönnies werden in Krankenhäusern behandelt. Ausgerechnet in einem Bundesland, wo man früh lockerte – und nun einen neuerlichen Lockdown für die Kreise Gütersloh und Warendorf verkünden musste.
"Natürlich tun sie mir leid"
Die Firma Tönnies ist seit Tagen geschlossen. Zu Mittag sieht man ein paar wenige Arbeiter am Gelände, für sie gilt eine sogenannte Arbeitsquarantäne: Sie dürfen sich zwischen Arbeits- und Wohnort bewegen. So wie ein Mann mit Maske, der gerade in das Fahrerhaus eines LKWs hochklettert - "gibt nichts mehr auszuliefern", sagt er und bringt das Gefährt weg.
Etwas geschäftiger geht es noch in der geschlossenen Werkverkaufsfiliale zu. Der Blick durchs Fenster zeigt Menschen, die Ware sortieren und in Kartons schlichten. Grillkohle, Debreziner und ein ganzes Bein Serrano-Schinken stehen noch in der Auslage. Abholen wird sie so schnell keiner. Genauso wie niemand jetzt das Tagesangebot im Restaurant nebenan bestellt: "Spanferkel mit Kartoffelstampf und Sauerkraut" für 6,90 Euro steht mit Kreide auf die Menütafel geschrieben. Erst am 2. Juni hatte man hier wieder aufgesperrt, nun ist alles dicht.
Im Stadtzentrum von Rheda-Wiedenbrück ist es ebenfalls ruhig. Umso auffälliger sind Menschen in weißen Schutzanzügen mit Masken, die vor einigen Häusern stehen und Corona-Tests machen. "Natürlich tun sie mir leid, aber was willst du machen", sagt ein Nachbar, der sich als Mustafa vorstellt. In dem Haus würden Tönnies-Mitarbeiter leben, erzählt er. Auch er habe mal dort gearbeitet, mittlerweile ist er aber sein eigener Chef in einer Reinigungfirma, die er mit seinen Söhnen führt, sagt der Mann nicht ohne stolz in der Stimme. Tönnies war für ihn "Sklavenarbeit", obwohl die Firma damals noch kleiner war. Heute werden in der 48.000-Einwohner-Stadt fast 30.000 Schweine täglich geschlachtet. Dazu braucht es viel Personal und dieses wird letzlich in Massenquartieren untergebracht. Etwa 3.000 Mitarbeiter leben direkt in der Stadt, noch einmal so viele im Umkreis.
Abends wird es hier oft laut, berichtet Mustafa. Das verärgert einige, gleichzeitig könne er verstehen, dass es auf engem Raum und in Isolation nicht viel zu tun gäbe. "Manche der Bewohner im Haus verstehen auch gar nicht, was denn hier überhaupt passiert."
Was es künftig zu beachten gilt: Wer positiv getestet wird, muss drinnen bleiben. Für alle anderen gilt eine Kontaktbeschränkung. In der Öffentlichkeit dürfen sich zwei Personen treffen oder Angehörige eines Hausstandes. Konzerte und Veranstaltungen werden verboten. Kindergärten und Schulen sind schon seit Tagen geschlossen.
Spricht man mit Eltern, hört man Frust und Wut heraus. Swetlana Reimer, alleinerziehende Mutter eines Schulanfängers und von Zwillingen im Kindergarten-Alter, ist auf Notbetreuung angewiesen. Sie weiß aber nicht, ob diese stattfindet: "Das ständige Hin und Her ist auch für die Kinder enorm belastend." Nun müsse sie ihrem Sohn wieder sagen, dass er weder zum Sport noch Freunde treffen kann. Was Reimer und andere Eltern besonders ärgert: Sie hätten sich an die Regeln und Corona-Maßnahmen gehalten, weil es ein großer Betrieb aber nicht getan hat, müssen alle mit den Folgen leben. Konkret wird Tönnies vorgeworfen zwar ein Hygienekonzept erstellt, dieses aber nicht richtig umgesetzt zu haben. Allein zwei Drittel der Beschäftigten haben sich im Bereich Fleischzerlegung infiziert.
Keine Werkverträge mehr ab 2021
Nimmt man Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) beim Wort, müsste sich Tönnies für diese Folgen verantworten. Man werde mit den Zuständigen darüber reden, wer die Kosten für die Maßnahmen zu tragen habe – und sich die Zustände im Betrieb genauer ansehen. Auch die deutsche Bundesregierung kündigte an, Werkverträge ab 2021 zu verbieten - also dass Mitarbeiter über Subunternehmen angestellt werden. Der Schlachthofbetreiber übernimmt dabei rechtlich keine Verantwortung für den Arbeitsschutz. Ebenso wenig für die Unterkunft der Arbeiter, die von den Fremd- bzw. Subunternehmen organisiert wird.
"Die haben das lange unter dem Deckel gehalten"
Dass die Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche prekär sind, ist bekannt. Aber es brauchte eine Pandemie, damit die Politik sie öffentlich hinterfragt. Für Menschen wie Armin Wiese von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, die sich seit Jahren mit dem Konzern beschäftigt, ist das ernüchternd, aber eine Hoffnung. "Irgendwann musste der Tag kommen, die haben das lange unter dem Deckel gehalten."
Auch Inge Bultschnieder, die sich seit vielen Jahren für osteuropäische Arbeitskräfte engagiert, ist optimistisch, dass sich nun auch an den Beschäftigungsverhältnissen einiges ändert. "Wenn nicht jetzt, wann dann", sagt die 48-Jährige unter der Laube ihres Garten sitzend. Bultschnieder ist hier in Rheda-Wiedenbrück keine Unbekannte. Wenn sie etwa eine Unterkunft ausmacht, wo es drinnen schimmelt und draußen stinkt, weil ein Kühlschrank mit altem Fleisch entsorgt wurde, kann es passieren, dass diese plötzlich schnell geräumt wird. Dank gibt es dafür meist keinen, zumindest nicht in der eigenen Stadt - dafür Auszeichnungen von Stiftungen.
Ihr Engagement, erzählt sie, entsprang 2012 einem Erlebnis im Krankenhaus. Ihre Bettnachbarin, eine Rumänin, erzählte ihr damals von den prekären Arbeitsverhältnissen - und Bultschnieder wollte ihre helfen. Sie gründete die Interessengemeinschaft "Werkfairträge", die Menschen berät und unterstützt. Dass nun ausgerechnet ein Virus kam - und indirekt dazu führt, das System zu verändern, hätte sie nicht geglaubt - "wobei Corona ist ja auch ein Heiliger", sagt sie scherzhaft, wird dann aber wieder ernst. Dass sich Stadt und Betrieb über viele Jahre hinweg nicht um die Zustände der Behausungen und Veträge der Beschäftigten gekümmert haben, ärgert sie.
Isoliert in der Massenunterkunft
Übersehen kann man die Zustände jedenfalls nicht – wie etwa in einer Siedlung in Herzebrock: Zwischen Einfamilienhäusern reiht sich ein Backsteinbau mit halboffenen Fenstern, zerschliessenen Jalousien. Das Haus wirkt verlassen, doch es dauert nicht lange, bis ein paar Männer ihre Köpfe aus dem Fenster strecken. Sie seien nicht krank, ruft einer: "Nix Corona". 20 Mann leben drinnen, berichtet einer, sie kommen aus Bulgarien. Was sie nun machen? Schlafen, essen oder sich mit dem Handy beschäftigen. Wie es ihnen bei Tönnies geht? Einer wiegt mit dem Kopf, lächelt und macht eine Handbewegung, die man als "so lala" interpretieren könnte. Wirklich viel will dazu keiner sagen, die Folgen sind bekannt.
Wer sich beschwert, fliegt
Wer sich beschwert, fliegt raus – aus dem Betrieb und der Wohnung. "In jedem Arbeitsvertrag wird geregelt, dass die Miete vom Lohn einbehalten wird. Das sind meist 300 Euro pro Bett. Wer nicht mehr bei Tönnies arbeiten kann oder darf, verliert umgehend seine Bleibe. Das wird auch häufig als Druckmittel benutzt", so Gewerkschafter Wiese. Umgekehrt gäbe es auch Prämien, sonstige Extras für sehr loyale Mitarbeiter oder mal eine Spende für Organisationen, weiß er zu berichten. "Entweder du wirst gekauft oder es wird dir das Leben schwer gemacht."
Ein Ex-Mitarbeiter erzählt
Wie groß der Druck sein kann, bekam ein früherer Mitarbeiter zu spüren, der anonym bleiben will. Sein halbes Leben hat er bei Tönnies gearbeitet. Bis zum Vorarbeiter hat er es gebracht, erzählt der Mann im Garten seines Zuhauses. Das Zerlegen von Fleisch sei wie eine Kunst, man brauche Kraft und Kreativität, schwärmt er und zeigt auf seine Arme. "Das liegt mir im Blut", sagt er über den Beruf, den er in seiner rumänischen Heimat gelernt hat. Und den dann andere übernommen hätten, die weniger qualifiziert waren. Auch was so auf dem Band lande, habe ihn schockiert. Oder wenn dieses etwa wegen technischer Problemen angehalten wurde und alle in die Kantine mussten – es gab dann keinen Lohn. Als er sich gewerkschaftlich informierte, hätten das andere mitbekommen. Er wurde versetzt.
Der Frust, nichts Kritisches sagen zu können, und die Akkordarbeit von 5 bis 17 Uhr machten ihn kraftlos. Tönnies, so der Mann, habe viele ruiniert, und mache es auch jetzt, sagt er mit Blick auf den Corona-Ausbruch. Schon die Kantine sei viel zu klein, Abstand halten schwierig. Dass ein Politiker wie Armin Laschet dann von Rumänen und Bulgaren spricht, die das Virus eingeschleppt hätten - eine Aussage, die der CDU-Mann bereits relativierte -, lässt ihn lauter werden. "Er hätten besser mal den Betrieb kontrollieren lassen sollen."
Doch das ist nicht passiert. Der Lockdown ist zurück – für die Tönnies-Mitarbeiter wie in Sürenheide bleibt es ein totaler. Bewacht von Polizisten, betreut vom Roten Kreuz und beobachtet von Fernsehteams.
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