Hoher Preis fürs Billig-Fleisch: Wie Corona in deutsche Schlachthöfe kam
Die Fleischindustrie stand bisher meist am Pranger, wenn es um den Umgang mit Tieren ging: unzureichende Betäubung und qualvoller Tod in den Schlachthöfen. Nun steht der Umgang mit den Mitarbeitern im Fokus. Grund ist das zahlreiche Auftreten von Corona-Erkrankungen in Schlachtbetrieben in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Bayern. Bei „Westfleisch“ im westfälischen Coesfeld sind 260 der 1.200 Mitarbeiter infiziert. Dies führte dazu, dass es im ganzen Landkreis zu Neuinfektionen kam – und die Obergrenze von 50 Neuinfektionen in der Woche pro 100.000 Einwohnern überschritten wurde. In diesem Fall müssen erneut Schutzmaßnahmen eingeleitet werden, Lockerungen verschoben werden: Keine Öffnung von Restaurants, Fitnessstudios oder Tourismus.
So oft die Fleischwirtschaft schon in der Kritik stand – diesmal betrifft es neben Tieren und Mitarbeitern auch viele andere.
Branchenkenner überrascht es nicht, dass die Fleischindustrie zum Hotspot wurde. „Die Corona-Krise ist eine Art Brennglas, die sehr deutlich macht, was hier schief läuft – und das nicht erst seit gestern, sondern schon lange“, sagt Jonas Bohl von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).
System der Ausbeutung
Seit vielen Jahren bedienen sich Platzhirschen wie „Tönnies“ oder „Westfleisch“ billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa, meist aus Rumänien oder Bulgarien. Richtig begonnen hat es ab 2004 mit der EU-Osterweiterung, erklärt Bohl. „Die Betriebe haben verstärkt auf Menschen gesetzt, die diese harte Arbeit für weniger Lohn machen, als deutsche Beschäftigte – auch aus der Not heraus, weil sie so ihre Familien unterstützen können oder müssen.“ Für sie wäre selbst der deutsche Mindestlohn von 9,35 Euro ein guter Verdienst, die Bedingungen sind es aber nicht.
Angestellt sind sie allerdings nicht bei den deutschen Betrieben selbst, sondern bei externen Firmen – meist aus ihren Herkunftsländern –, die ihnen für Wochen oder Monate Zeitverträge geben. Darin wird etwa die Zahl der zu schlachtenden Tiere oder Gewichtstonnen an zu zerlegenden Tieren zu einem bestimmten Preis geregelt. Der Schlachthofbetreiber übernimmt rechtlich keine Verantwortung für den Arbeitsschutz. Ebenso wenig für die Unterkunft der Arbeiter, die von den Fremd- bzw. Subunternehmen organisiert wird.
Massenunterkünfte, wenig Chance auf Abstand
Dabei handelt es sich meist um leere Kasernen oder alte Bürogebäude, wo sie auf engem Raum wohnen – die 200 Euro für ein Bett werden ihnen oft vom Lohn abgezogen, berichtet Bohl. Er kennt „diese Behausungen“, die hygienischen Verhältnisse und weiß, dass es schwer ist, Abstand zu halten. „Ein so ausgefuchstes und durch-industrialisiertes System der massenhaften Unterbringung gibt es meines Wissens in anderen Ländern noch nicht.“ Und genau damit hat die Branche jetzt zu kämpfen. Denn es geht der Verdacht um, dass sich die Menschen in den Unterkünften oder in Bussen auf dem Weg in den Betrieb angesteckt haben.
So sieht es der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Nordrhein-Westfalen will 200.000 Beschäftigte in den Betrieben auf das Virus testen lassen. Nicht nur bei „Westfleisch“ soll es Infizierte geben. Laumann verlangt ein umfassendes Hygienekonzept von den Betrieben. „Wir können nicht so tun, als wenn wir nicht wüssten, dass wir es in der Arbeits- und Unterbringungssituation der osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmer in der Fleischindustrie oft mit prekären Verhältnissen zu tun haben.“
Branche wehrt sich: „Nicht mehr wettbewerbsfähig“
In der Branche weht man sich aber gegen härtere Auflagen. Die Hauptgeschäftsführerin des Verbands der Deutschen Fleischwirtschaft, Heike Harstick, warnte via Süddeutsche Zeitung: „Es gibt keine schnelle und einfache Lösung.“ Wenn etwa die Einzelunterbringung von Mitarbeitern vorgeschrieben und damit höhere Wohnungsmieten verursacht würden, seien viele Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig, heißt es.
Geiz-ist-geil-Mentalität
Laut der EU-Statistikbehörde Eurostat geben die Deutschen vergleichsweise wenig Geld für Fleisch aus – ebenso Länder wie Österreich, Schweden, die Niederlande oder Frankreich. In Deutschland werden zudem 70 Prozent der Fleisch-Angebote von den Supermärkten als Rabatte ausgewiesen, was den Druck zusätzlich erhöht. Georg Nüßlein von der CSU schlägt einen Stopp von Billigpreis-Werbung für Fleisch vor. „Preise für Schweinefleisch von beispielsweise 4,44 Euro pro Kilo halte ich für unethisch.“ Gewerkschafter Bohl ortet in Deutschland eine sehr ausgeprägte „Geiz-ist-geil-Mentalität“. „Sie kaufen gerne einen 500-Euro-Grill, freuen sich aber, wenn sie eine Wurst für wenig Cent auflegen können.“ Auch das ist ein Grund, warum im System so wenig Geld steckt.
Dennoch entbindet das die Betriebe nicht von ihrer Verantwortung, „ebenso wenig Politik und Behörden davon, dass sie durchgreifen müssen“. Aus Sicht der Gewerkschaft sollten die Werkverträge verboten werden und die Betriebe ihre ureigenen Aufgaben wie Schlachten und Zerlegen, nicht an dubiose billige Fremdfirmen“ auslagern dürfen. „Denn sobald etwas passiert, verweist man auf diese Firmen, schiebt bequem jede Schuld auf sie.“
Mit ihnen ist es schwer, in Kontakt zu kommen. Man versuche sie vor den Betrieben so gut es geht, zu informieren. Neben Sprachbarrieren herrscht auch Angst: „Viele haben Sorge ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie mit uns sprechen.“ Wenig angreifbar sind die Fremdfirmen, die bei Probleme schnell Eigentümer, Namen wechseln und dann weitermachen, so Bohl. „Diese Strukturen sind falsch, das ganze System ist krank und reformbedürftig.“
Druck aus der Politik nimmt zu
Ob es sich so schnell ändert? Der Politik ist das Thema schon lange bekannt. „Die Zustände in Teilen der Fleisch- und Schlachtwirtschaft sind Besorgnis erregend“, stellte bereits 2013 die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) fest. Einzelne Unternehmen würden „systematisch das deutsche Arbeitsrecht unterlaufen und eine ganze Branche in eine Kostenspirale nach unten zwingen, indem sie ausländische Werkvertragsnehmer unter unwürdigen Bedingungen beschäftigen“.
In den letzten Wochen zeigte sich dennoch: Der Druck von Seiten der Politik auf die Branche wird immer größer. Im Bundestag wurde auf Antrag der Grünen über die Lage in der Fleischindustrie diskutiert. Sie fordern nun in einem Sieben-Punkte-Plan neben einem Mindestpreis für Tierprodukte, mehr Kontrollen, Arbeitsschutz und ein Verbot von Werkverträgen. Auch Kanzlerin Angela Merkel hat sich dazu eingeschaltet und stellte Neuregelungen für Schlachtstätten in Aussicht. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der ankündigte „wirklich aufräumen“ zu wollen, will an diesem Montag seine Vorschläge vorstellen.
1.481 Betriebe im Schlacht- und Verarbeitungsbereich gibt es in Deutschland laut Statistischem Bundesamt (Stand Sept. 2019). Branchenriese ist „Tönnies“ mit 6.500 Mitarbeiter in der Zentrale in NRW, gefolgt von „Vion“ und „Westfleisch“
128.000 Menschen arbeiten in der Branche. Geschätzte 70 bis 80 Prozent sind laut Gewerkschaftsbund über Werkverträge beschäftigt – das sind mehrere 10.000 Menschen aus Osteuropa. Konkrete Angaben gibt es nicht
Kommentare