Die Fassungslosigkeit war vor dem Plenarsaal des Deutschen Bundestags an diesem geschichtsträchtigen Tag fast greifbar. "Wer so etwas macht, hat offenbar nicht verstanden, worum es in Deutschland gerade geht", stammelte Karin Prien ins ARD-Mikrofon.
Sie hätte zu diesem Zeitpunkt eigentlich bereits als neue Bildungsministerin angelobt sein sollen.
Es war noch eine der schärfsten Aussagen aus den Reihen der Union und der SPD. Spitzenfunktionäre beider Parteien gaben sonst eher leise Töne von sich, obwohl Friedrich Merz im ersten Wahldurchgang ganze 18 Stimmen für die Kanzlerschaft gefehlt hatten. Doch weil es eine geheime Abstimmung war, konnte niemand sicher sein, ob nicht die eigene Partei schuld war an diesem Debakel.
Merz ist Kanzler, doch schon wieder fehlten mindestens drei Stimmen
Erst im zweiten Wahlgang am Dienstagnachmittag klappte es schließlich: Merz wurde mit 325 Stimmen vom Bundestag zum neuen Kanzler gewählt - bezeichnenderweise hatten auch diesmal nicht alle 328 Abgeordneten der Koalitionsparteien für ihn gestimmt.
In beiden Lagern gab es wohl gute Gründe für die etwaigen Abweichler:
Was für Gegenstimmen aus der SPD sprach
Eigentlich kann die SPD mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen äußerst zufrieden sein. Natürlich enthält das Regierungsprogramm Punkte wie die Reformierung des Bürgergeldes, die vor allem dem linken Parteiflügel missfallen. Doch trotz eines historisch schlechten Wahlergebnisses mit gerade einmal 16 Prozent der Stimmen hat sich die Partei sieben Ministerposten gesichert, Lars Klingbeil erhält als Vizekanzler und Finanzminister eine große Machtfülle.
Gerade gegen den steilen Aufstieg des 47-jährigen Neo-Parteichefs könnte es aber nun Widerstand gegeben haben: Klingbeil wählte die neuen SPD-Minister weitestgehend eigenhändig aus, überging dabei unter anderem seine Co-Parteivorsitzende Saskia Esken und den beliebten Arbeitsminister der Ampel-Regierung, Hubertus Heil. Beide verfügen in der Partei über Einfluss und könnten Vertraute dazu bewogen haben, Klingbeil und Merz einen Denkzettel zu verpassen.
Vor einem ARD-Mikrofon stellte sich Klingbeil zu Mittag vor seine Partei: Es gebe „nicht den geringsten Hinweis“ auf Abweichler aus den Reihen der SPD: „Auf uns ist Verlass.“
Was für Gegenstimmen aus der CDU sprach
Auch die CDU/CSU steht nicht mehr so geeint hinter Merz wie nach dessen Wahlsieg im Februar. Schließlich hat der Parteichef nur ein Monat später bei einer Abstimmung im Bundestag die Aufnahme neuer Schulden in Höhe von einer Billion Euro erwirkt. Dieses sogenannte Sondervermögen soll in die Aufrüstung der Bundeswehr und die Modernisierung der Infrastruktur fließen.
Dass Merz dafür mit einem zentralen Wahlversprechen gebrochen hatte – dem Festhalten an der Schuldenbremse, einem Gesetz mit Verfassungsrang, durch das Deutschland sich seit 2009 faktisch nicht neu verschulden konnte – nahm ihm vor allem der fiskalpolitisch konservative Parteiflügel übel. Merz hatte diesen jahrelang selbst angeführt.
Wissend um mögliche Saboteure aus dem eigenen Lager soll CDU-Fraktionschef Jens Spahn am Dienstag zwischenzeitlich sogar Gespräche mit grünen und linken Abgeordneten geführt haben. Letztlich waren deren Stimmen aber nicht nötig. Oder doch?
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