Französische Streik-Euphorie treibt Präsident Macron in Enge

Frankreichs Regierung versucht den sozialen Flächenbrand mit Zugeständnissen zu löschen.

Der Pariser „Gare du Nord“ ist einer der größten Bahnhöfe Europas und der wohl wichtigste Knotenpunkt Nordwesteuropas. Von hier aus zischt der „Eurostar“ unter dem Ärmelkanal nach London. Die Wege der Garnituren des deutschen ICE und des französischen TGV kreuzen sich hier. Der „Thalys“ braust im Stundentakt in die EU-Hochburg Brüssel. Vor allem aber fluten normalerweise Hunderttausende Pendler aus dem Pariser Vorortegürtel die Bahnhofshalle. Aber jetzt herrschen hier keine normalen Bedingungen und das auf unabsehbare Zeit.

Dafür sorgen ein paar hundert Eisenbahner, die sich seit Donnerstag jeden Morgen in einem Depotgebäude zu einer „AG“ („Assemblée generale“, auf Deutsch: Vollversammlung“) einfinden. „Wer ist für die Fortführung des Streiks?“ fragt ein Gewerkschafter auf einem Podest. Wie ein Mann (oder besser gesagt: auch wie eine Frau, weil Eisenbahnerinnen in dem Arbeitskampf eine hervorragende Rolle spielen) reißt die dicht gedrängte Menge die Arme hoch. Dazu Jubelchöre: „Ouai – Tous ensemble, tous ensemble“ (Sinngemäß: Jo, wir stehen alle beisammen).

Solche Szenen kollektiver Euphorie haben sich Freitag in etlichen Bahndepots Frankreichs wiederholt. Am Tag zuvor waren annähernd eine Million Personen dem Aufruf fast aller – ansonsten vielfach zerstrittenen – Gewerkschaftsbünde Frankreichs gefolgt und gegen die geplante Rentenreform auf die Straßen gegangen. „Gelbwesten“ waren auch wieder dabei, und schwarz bekleidete Schlägergruppen, die sogenannten „Black Blocks“ sorgten auch wieder für Randale, aber sie konnten zum ersten Mal seit Langem den Gewerkschaften nicht die Show stehlen. Sogar die Regierungssprecherin gab sich anerkennend: „Wir respektieren die Mobilisierung der Franzosen“.

Zusätzlich zum unbefristet andauernden Bahnstreik haben inzwischen die meisten Gewerkschaften für nächsten Dienstag neuerlich zum allgemeinen Ausstand und Demos aufgerufen.

Dafür und dagegen

Freilich: Auch eine Million Demonstranten landesweit stellen nur einen Bruchteil der Bevölkerung dar. Und die Stimmung in der Bevölkerung bleibt schwer verworren: Einerseits erklärten sich laut Umfrage zwei Drittel der Franzosen mit dem Streik einverstanden. Eine ebenso große Mehrheit befürwortet aber gleichzeitig die Abschaffung der vergleichsweise noch sehr günstigen Sonder-Pensionssysteme der Eisenbahner. Was wiederum dem Reformplan der Regierung entspricht und einem der Hauptanliegen der Streikenden zuwiderläuft.

Zurzeit können noch ein Teil der fahrenden Eisenbahner mit 52 und Nicht-Fahrende mit 57 Jahren in Pension gehen. Wohingegen das allgemeine gesetzliche Rentenantrittsalter bei 62 Jahren liegt, und de facto, wegen der Verlängerung der erforderlichen Beitragsjahre, die Franzosen im Schnitt mit 63,4 Jahren ihre Rente antreten (zuvor Entlassene nicht eingerechnet). Allerdings gelten auch bei der Bahn die Pensionsprivilegien nur mehr für immer weniger Bedienstete, weil der ursprüngliche beamten-ähnliche Eisenbahner-Status für nachrückende Generationen abgeschafft wurde.

Französische Streik-Euphorie treibt Präsident Macron in Enge

Emmanuel Macron hatte schon im Vorlauf seines Siegs bei den Präsidentenwahlen 2017 die Vereinheitlichung des verworrenen Pensionssystems, dass in 42 verschieden funktionierende Kassen zersplittert ist, zu einem seiner Hauptanliegen erkoren. Ziel der Reform: ein einheitliches Entgelt-Punktsystem, das jedem pro eingezahltem Betrag einen gleichwertigen Pensionsanspruch gewährt.

Inzwischen wurde aber klar, dass es zahllose Berufsgruppen vor allem (aber nicht nur) im öffentlichen Dienst gibt, die bei einer glatten Anwendung dieses Punkte-Systems drastische Abstriche hinnehmen müssten – in etlichen Fällen nach eher schlecht bezahlten und zermürbenden Berufslaufbahnen.

Zusagen, Verunsicherung

Die Regierung hat zwar für alle Härtefälle ausgleichende Maßnahmen und sogar eine Erhöhung der Mindestansprüche namentlich für alleinstehende Mütter, Selbstständige und prekäre Jobber in Aussicht gestellt. Aber bisher blieben die diesbezüglichen Ansagen derartig diffus und widersprüchlich, dass sie meistens für Verunsicherung sorgten.

Die Regierung will jetzt präzisere Zugeständnisse präsentieren. Die Frage ist bloß, ob es nicht zu spät ist: Die Streikbasis will inzwischen das gesamte Punkteprojekt kippen. Damit aber steht oder fällt die verbliebene Glaubwürdigkeit von Macron als Erneuerer.

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