Der "Charlie Hebdo"-Karikaturist, der nur überlebte, weil er verschlief
Zehn Jahre liegt er zurück, der islamistische Terroranschlag auf das französische Satiremagazin "Chalie Hebdo". Zwei mit Maschinengewehren bewaffnete Männer drangen damals in die Redaktion ein und erschossen elf Menschen.
Comiczeichner und Karikaturist Luz war Teil der Redaktion und überlebte nur durch Zufall. Er hatte verschlafen - und damit den Anschlag, der nur fünf Minuten dauerte, schlicht verpasst.
Trotzdem hat jener Tag vor zehn Jahren Spuren hinterlassen und Luz' Leben verändert. Mit dem KURIER sprach der Karikaturist über sein Werk, „Charlie Hebdo“ und den Aufstieg der Rechtsextremen in Frankreich.
KURIER: Bald jährt sich der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ zum zehnten Mal. Hat der Jahrestag eine Bedeutung für Sie?
Luz: Seit fast zehn Jahren denke ich an diesen zehnten Jahrestag. Am schwierigsten war für mich, meine Trauer von der ganzen Welt in Beschlag nehmen zu lassen. Es ist ziemlich unüblich, innerhalb von einer Woche neun Menschen, die Sie lieben, zu Grabe tragen zu müssen. Und genau zu dieser Zeit wurde ich von den Medien angerufen, von manchen zu einem Symbol gemacht. Meine Art, meine Trauer zu verarbeiten, war es Bücher zu machen.
In „Katharsis“, das rasch nach dem Anschlag erschien, ging es um diese absolute Fassungslosigkeit nach dem Tod von jemandem. In „Wir waren Charlie“ erzählte ich Anekdoten aus der Zeit bei „Charlie Hebdo“, nicht um ein Phantom wieder auferstehen zu lassen, aber um erneut mit meinen Freunden und Kollegen zu arbeiten (lacht).
Aktuell arbeiten Sie an einer Comic-Adaption des dreiteiligen Bestsellers "Das Leben des Vernon Subutex" der Feministin Virginie Despentes. Die Vorlage erschien in Frankreich ausgerechnet am 7. Jänner 2015 – dem Tag des Anschlags. Ein eigenartiger Zufall?
Ja, diese Sache mit dem Datum ist ziemlich irre. Der 7. Jänner ist noch dazu mein Geburtstag, was mich wohl gerettet hat – denn deshalb kam ich damals zu spät zur Redaktionskonferenz. Die Täter waren schon weg, sonst hätten sie mich auch erwischt. Das Attentat war natürlich der Grund, warum ich „Vernon Subutex“ nicht sofort gelesen habe.
Luz, eigentlich Rénald Luzier, 52, ist ein französischer Karikaturist und Comiczeichner. 23 Jahre lang arbeitete er für die Satirezeitung „Charlie Hebdo“. Dort hatte er eine Reihe Titelblätter gezeichnet, etwa im November 2011 eine Mohammed-Karikatur mit den Worten „100 Peitschenhiebe, wenn Sie sich nicht totlachen“. Am Tag der Veröffentlichung wurde die Redaktion Ziel eines Brandanschlags.
Am 7. Jänner 2015 stürmten schließlich zwei Bewaffnete die Redaktion und töteten insgesamt zwölf Menschen, darunter acht Mitglieder der Redaktion. Im Mai 2015 verließ Luz „Charlie Hebdo“ und veröffentlichte seitdem mehrere Comicbücher für Erwachsene, darunter eine Adaptation des Werks „Das Leben des Vernon Subutex“ von Virginie Despentes.
Die Trilogie über den rasanten sozialen Abstieg eines Pariser Plattenhändlers führte in Frankreich wochenlang die Bestsellerlisten an und gilt als vielschichtiges und zugleich sehr erbarmungsloses Panorama der französischen Gesellschaft.
Sie verließen kurz nach dem Anschlag das Magazin und machen seither literarische Projekte. Was hat Sie an der Adaptation von „Das Leben des Vernon Subutex“ gereizt?
Die Idee stammte vom Verlag, doch Virginie Despentes war mit den Comicautoren, die man ihr vorschlug, nicht zufrieden und sagte, es gebe nur einen, der das machen könnte, nämlich Luz. Ich fühlte mich natürlich sehr geschmeichelt.
Als ich mir dann „Vernon“ angesehen habe, hat es richtig eingeschlagen bei mir, vor allem diese Litanei der „Ich bin…“, die dort vorkommt: „Ich bin eine Geigenspielerin, ich bin ein Penner auf einer Bank…“ Plötzlich taten sich für mich neue Varianten dieses „Ich bin…“ auf.
Sie spielen auf das Schlagwort „Ich bin Charlie“ an, das als Solidaritätsbekundung nach dem islamistischen Anschlag um die Welt ging, weiß auf schwarzem Hintergrund.
Genau, und es erschütterte mich zu sehen, dass es andere Formen des „Ich bin…“ geben konnte. An „Vernon Subutex“ zu arbeiten, bedeutete, mich über die darin vorkommenden Figuren mit den verschiedenen Aspekten meiner eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen.
Außerdem hatte ich bis dahin an düsteren Projekten gearbeitet, in denen es immer um das Ende von etwas ging. Mit „Vernon“ sah ich eine Öffnung hin zu etwas Positivem, einer neuen Gemeinsamkeit der Menschen untereinander.
„Charlie Hebdo“ ist ein Presseorgan, heute haben Sie sich von Arbeit mit der Aktualität entfernt. War das eine logische Entscheidung nach dem Anschlag?
Eigentlich ist beides sehr ähnlich, nur der Umgang mit der Zeit ist ein anderer. Während meiner 23 Jahre bei „Charlie Hebdo“ machte ich viele Reportagen, recherchierte vor Ort. Das tue ich auf eine Weise immer noch, aber ohne die Deadlines.
Nachdem ich von „Charlie“ weggegangen war, wurde mir klar, dass ich nicht mehr in dieser Mühle arbeiten kann. Allerdings ist das Leben eines Comic-Zeichners einsamer als das eines Presse-Karikaturisten, der im Kollektiv arbeitet. Jetzt bin ich sehr allein und muss mit meinen eigenen Figuren Dialoge führen.
Bei „Charlie Hebdo“ waren Sie auf die Berichterstattung über die Rechtsextremen spezialisiert. Wie blicken Sie auf deren aktuelle Stärke in Frankreich und ganz Europa?
In Frankreich gab es 2024 große Ereignisse, die EU-Wahlen im Sommer, daraufhin neue Parlamentswahlen und jeweils erhielt der rechtsextreme Rassemblement National viele Stimmen. Da bekam ich unmittelbar Lust, sofort wieder zu zeichnen, das war sehr verlockend.
Zugleich war ich gerade dabei, ein neues Buch zu beenden, das in Deutschland im Mai herauskommt: „Zwei weibliche Halbakte“, in dem ein Teil der deutschen Geschichte aus der Perspektive eines Gemäldes des deutschen Malers Otto Mueller betrachtet wird, das 1937 als Beitrag der NS-Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ konfisziert wurde.
Hintergrund ist der Aufstieg der Rechtsextremen in den 1930er Jahren in Deutschland. Ich dachte, ein historisches Buch zu machen und letztlich ist es sehr aktuell.
Sie ziehen eine Parallele zwischen der Nazizeit und heute. Ist die Gesellschaft nicht weitergekommen?
Wir sind eher im Rückschritt begriffen. Im Sommer gab es in Frankreich sehr viele Debatten über die Erstarkung der Rechtsextremen.
Als die Partei die Wahlen dann doch nicht gewann, schliefen alle wieder ein, obwohl elf Millionen Menschen extrem rechts gewählt haben – das waren mehr als all jene, die am 11. Jänner 2015 bei der Kundgebung gegen Terrorismus nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ auf die Straße gegangen sind.
Das bereitet mir ein Schwindelgefühl, denn bei dieser Demonstration hatten wir die Illusion, dass wir gemeinsam in eine Richtung gehen, eine Art emotionale Gemeinschaft finden, in der wir unsere Unterschiede vergessen.
Vielleicht bestand die Illusion darin zu denken, dass alle Menschen in einer Bewegung mitgenommen werden können – und nicht nur ein Teil von ihnen?
Ja, natürlich gibt es immer Leute, mit denen man nicht einverstanden ist. Ich glaube, es ist wichtig, sich die Fähigkeit zu bewahren, in Alarmbereitschaft zu sein. Ich mache Bücher, um wachsam zu bleiben. Die Sorge vor dem Aufkommen einer Form der totalitären Gesellschaft ist in all meinen Werken präsent. Gleichzeitig ist es wichtig, Empathie für alle Figuren, sogar für die Dreckskerle, zu haben.
Das ist auch ein Schlüssel, um das Schreiben von Despentes zu verstehen. In einem Buch, das ich über den Schriftsteller Albert Cohen verfasst habe, kommt ein Satz vor, der wesentlich ist: Ihr müsst einander nicht lieben, es reicht schon, wenn ihr euch nicht hasst. Wenn uns das gelingen würde, wäre schon viel gewonnen.
Luz – Virginie Despentes: Vernon Subutex 1 und 2, Aus dem Französischen von Lilian Pithan & Claudia Steinitz, Reprodukt Verlag, 39 Euro und 44 Euro
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