Flüchtlingslager Kara Tepe: "Ganze Generation geht kaputt"
Von Philipp Hedemann
Die Norwegerin steht im Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos an vorderster Front. Der Job der „Ärzte ohne Grenzen“-Mitarbeiterin Katrin Glatz-Brubakk (50), der sie oft an ihre Grenzen bringt: Als Kinderpsychologin behandelt sie traumatisierte und suizidgefährdete Kinder und Jugendliche, die im abgebrannten Flüchtlingslager Moria gelebt haben.
KURIER: Wie ist der Zustand der Kinder und Jugendlichen?
Katrin Glatz-Brubakk: Sie haben Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten, extrem niedrige Frustrationstoleranz, sind aggressiv und haben Panikattacken. Sie spielen nicht mehr, manche haben seit acht Monaten kaum ein Wort gesprochen. Seitdem das Lager Moria abgebrannt ist, gibt es hier in Kara Tepe viele Kinder, die schlafwandeln. Das Feuer hat die Kinder im September letzten Jahres aus dem Schlaf gerissen. Nachts laufen sie durchs Lager und schreien: „Hilfe! Es brennt! Ich sterbe!“ Sie verletzen sich, indem sie sich selbst beißen, sich die Haare ausreißen oder ihren Kopf gegen die Wand oder den Fußboden schlagen, bis sie bluten.
Und manche hegen Selbstmordgedanken?
Ja, zum Glück wissen Kinder noch nicht genau, wie man sich umbringt. Sie wissen nicht, wie viele Tabletten man schlucken muss oder wie lange man unter Wasser bleiben muss, um zu sterben.
Wie alt sind diese Kinder?
Das jüngste Mädchen war acht Jahre alt. Es hat versucht, sich zu erhängen. In diesem Jahr haben wir schon drei Kinder nach Suizidversuchen behandelt. Unter ihnen ist ein 13-jähriger Bursche aus Afghanistan, der schon mehrfach versucht hat, sich umzubringen: Er hat Tabletten geschluckt, er ist ins Meer gerannt, er hat versucht, vor ein fahrendes Auto zu springen, er hat sich mit Scherben und Rasierklingen aufgeschnitten (Katrin Glatz-Brubakks Augen füllen sich mit Tränen).
Das Schicksal dieses Buben nimmt Sie stark mit ...
Natürlich! Es macht mich fertig, wenn Kinder nur noch sterben wollen und wir sie wieder zurück in die Bedingungen schicken müssen, die sie krank gemacht haben. So geht eine ganze Generation kaputt. Wir können nur Pflaster auf Brandwunden kleben, während die Menschen noch im Feuer stehen. Als Therapeutin macht mich das total fertig.
Was motiviert Sie, dennoch weiterzumachen?
Wenn die geflüchteten Kinder auf Lesbos sich einmal in Dein Herz geschlichen haben, lassen sie Dich nicht mehr los. Wenn ein Kind nach monatelangem Schweigen wieder spricht und lacht oder eine Mutter mir vor Freude um den Hals fällt, weil ihre Kinder wieder spielen, schöpft man wieder Hoffnung.
Umarmungen trotz Corona?
Manchmal ist es wichtiger, eine Seele zu retten, als sich an alle Regeln zu halten.
Wie ist der Therapie-Ansatz?
Zuerst sprechen wir mit den Kindern, spielen und malen. Beim Spielen wird der Stresslevel abgebaut. Jüngst habe ich einen sechsjährigen Buben aus Syrien, der seit vier Monaten bei uns in Therapie ist, beim Spielen das erste Mal lächeln sehen. Ein anderes Beispiel: Ein Siebenjähriger aus Syrien malt ständig sein grünes Fahrrad, das bei der Bombardierung seines Elternhauses zerstört wurde. Er würde so gerne wieder Fahrrad fahren! Wenn Kinder keine Träume, Wünsche und Pläne mehr haben, sehen sie keinen Grund mehr, morgens aufzustehen und weiterzuleben.
Wie ist die Lage im Camp?
Die macht psychisch krank, wer es vorher nicht war, wird es hier. Die meisten Kinder sind aber bereits traumatisiert hergekommen. Ein Mädchen, das ich behandle, hat auf der Flucht mitbekommen, wie ihre Mutter und ihr Bruder erfroren sind. Viele haben erlebt, wie Angehörige ertrunken sind, als die überladenen Schlauchboote zwischen der Türkei und Griechenland sanken. Vor allem Mädchen, die alleine flohen, wurden oft vergewaltigt. Im Lager haben sie Angst vor Vergewaltigungen, weil es keinen Ort gibt, an dem sie sich sicher fühlen.
Wie ist es um die Hygiene in Kara Tepe bestellt?
Sehr schlecht, es gibt immer noch zu wenig Toiletten. Und die sind so dreckig, dass viele Menschen möglichst wenig essen und trinken, damit sie nicht so häufig aufs Klo müssen. Das Essen ist oft zu wenig und manchmal vergammelt. Den meisten Menschen geht es noch schlechter als im katastrophalen Lager Moria.
Warum?
Weil ihre Hoffnung schwindet. Fast 80 Prozent sind seit mindestens 15 Monaten auf Lesbos. Sie sind zermürbt. Mittlerweile geben viele die Hoffnung auf, dass das Leben jemals besser wird. Und die Kinder leiden am meisten. Wir Erwachsenen haben Lebenserfahrung. Wir haben in unserem Leben bereits Probleme erlebt und gelöst und wissen aus Erfahrung, dass nach schwierigen Zeiten oft bessere Zeiten kommen. Kinder brauchen Sicherheit, Geborgenheit und Planbarkeit, um sich gesund entwickeln zu können.
Inwiefern schlägt die Corona-Pandemie durch?
Zum Glück gab es seit ein paar Wochen keine neuen Corona-Fälle im Lager. Aber die Bewohner leiden sehr unter dem extrem harten Lockdown. Sie dürfen das Lager kaum noch verlassen, und im Lager gibt es keine Schule, keinen Spielplatz, keine organisierten Aktivitäten.
Wo sehen Sie denn die politische Verantwortung für diese Misere?
Die Bedingungen im Lager sind nicht das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern: Europa schaut zu, wie diese Menschen langsam zugrunde gehen. Es ist eine politische Wahl, Menschen so zu behandeln. Ich finde, es ist eine skandalöse Wahl. Nach dem Feuer in Moria sagte die EU: Nie wieder Moria! Jetzt haben wir ein zweites Moria.
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