Mariupol trotz Feuerpause unter Beschuss: Evakuierung kaum möglich

Evacuees from Mariupol are seen at a camp in Bezymennoye
Die Evakuierung aus der bombardierten Stadt Sumy hat begonnen, Mariupol wird trotz Feuerpause beschossen. Russland kündigte neue Evakuierungen und Waffenruhe an.

Russland will zur Rettung von Zivilisten aus umkämpften Städten in der Ukraine erneut Fluchtkorridore schaffen. Dazu solle am Mittwoch um 8.00 Uhr MEZ eine Waffenruhe in Kraft treten, teilte Generaloberst Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium am Dienstagabend der Agentur Interfax zufolge mit. Moskau erkläre sich dazu bereit. Es gab bereits mehrere Anläufe für Evakuierungen, die in den meisten Fällen gescheitert waren.

Man wolle bis 1.00 Uhr MEZ der ukrainischen Seite Zeit geben, die humanitären Korridore zu koordinieren, heiß es aus Moskau. Aus der Ukraine gab es dazu zunächst keine Reaktion. Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge bietet Moskau an, Menschen aus den Städten Kiew, Sumy, Charkiw, Mariupol und Tschernihiw nach Russland oder in andere ukrainische Städte zu bringen. Kiew hat es bisher abgelehnt, dass Ukrainer in das Nachbarland Russland zu evakuieren.

Auch am Dienstag hatte Russland eine Feuerpause in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine verkündet und die Einrichtung von humanitären Korridoren aus fünf belagerten Großstädten bekanntgegeben. Nur in der nordostukrainischen Stadt Sumy funktionierte der Fluchtkorridor allerdings. Eine Evakuierungsroute für die belagerte Hafenstadt Mariupol wurde von russischen Streitkräften unter Beschuss genommen.

Tod von 474 Zivilisten

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte hat in der Ukraine seit dem Einmarsch Russlands am 24. Februar und bis Dienstag, 00.00 Uhr, den Tod von 474 Zivilisten dokumentiert. Darunter waren 29 Minderjährige, wie das Büro in Genf berichtete. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 861 Verletzte vor, darunter mehr als 40 Minderjährige.

Die Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betont stets, dass die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit deutlich höher lägen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchten oft Tage, um Opferzahlen zu überprüfen. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.

"Die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht, darunter durch den Beschuss mit schwerer Artillerie und mit Raketenwerfern sowie durch Raketen- und Luftangriffe", teilte Bachelets Büro mit. Das Büro lieferte auch eine Aufteilung nach Regionen: Demnach kamen in den Separatistengebieten Donezk und Luhansk im Osten des Landes 72 Menschen in von der Regierung kontrollierten Zonen ums Leben, 24 auf dem Gebiet der selbst ernannten und von Russland anerkannten Republiken. 378 Todesfälle wurden in anderen Landesteilen registriert, darunter in Kiew, Charkiw und Cherson.

Mädchen unter Trümmern verdurstet

Die Ukraine macht Russland auch für den qualvollen Tod eines kleinen Mädchens in Mariupol verantwortlich. Die sechsjährige Tanja sei unter den Trümmern eines zerstörten Hauses verdurstet, schrieb Bürgermeister Wadym Bojtschenko im Nachrichtenkanal Telegram.

Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich entsetzt. "In Mariupol ist zum ersten Mal seit Jahrzehnten, zum ersten Mal seit der Nazi-Invasion ein Kind verdurstet", sagte Selenskyj. "Ein Kind starb an Dehydrierung. Im Jahr 2022!"

Einen schweren Schlag musste Russland abseits der Kriegsfronten einstecken: EU will innerhalb eines Jahres russische Gasimporte um zwei Drittel reduzieren, auch die USA wollen künftig gänzlich auf Öl und Gas und Russland boykottieren.

"Zynismus"

Mehrere Versuche, Fluchtrouten einzurichten, sind bislang missglückt.  Am Wochenende waren aber gleich zwei Anläufe für Evakuierungen von Mariupol gescheitert. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, gegen eine vereinbarte Feuerpause verstoßen zu haben.

Auch am Montag kam eine geplante Rettung von Zivilisten aus umkämpften Städten nicht voran. Der ukrainische Präsident warf Russland "Zynismus" vor und beschuldigte die russischen Truppen, die vereinbarte Route, über die Lebensmittel und Medikamente in die belagerte Stadt Mariupol im Süden der Ukraine gebracht werden sollten, "vermint" zu haben. Zudem hätten russische Soldaten die Busse zerstört, mit denen die Zivilisten aus den umkämpften Gebieten gebracht werden sollten.

Luftangriffe

An Tag 13 des Ukraine-Krieges vermeldete Russland Gebietsgewinne im Osten der Ukraine. Russische Truppen hätten laut Verteidigungsministerium fünf Siedlungen an der Grenze der Gebiete Donezk und Saporischschja eingenommen. Kampfjets und Bomber 26 hätten militärische Objekte zerstört, so das Ministerium.

Russische Truppen stehen nun nordwestlich von Kiew und versuchen, auch von Westen auf die ukrainische Hauptstadt vorzurücken. Laut der ukrainischen Armee haben die Russen begonnen, Ressourcen für den Sturm auf Kiew zusammenzuziehen. 

Bei einem russischen Luftangriff westlich von Kiew sind nach ukrainischen Angaben mindestens 13 Zivilisten getötet worden. Eine Granate habe das Gelände einer Großbäckerei im Ort Makariw getroffen, teilte das ukrainische Innenministerium am Montag mit. 

Luftangriffe wurden auch auf die nordostukrainische Großstadt Sumy geflogen. Laut lokalen Behörden wurden 21 Menschen getötet, darunter auch Kinder. In Sumy wurde "in einigen Ortschaften Wohngebäude bombardiert. Und fast im Zentrum von Sumy wurden mehrere Häuser durch einen Bombentreffer zerstört", teilte der Chef der Gebietsverwaltung, Dmytro Schywyzkyj, in der Nacht auf Dienstag mit. Die Angaben waren nicht unabhängig zu prüfen.

Nach Darstellung der USA haben die russischen Streitkräfte offenbar in den vergangenen Tagen im Norden und Nordosten der Ukraine keine großen Fortschritte erzielt. Die Truppen hätten die Stadt Cherson erobert und versuchten, Mariupol zu umzingeln, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby.

Die ukrainischen Streitkräfte fügten den Angreifern nach eigenen Angaben schwere Verluste zu. Einige russische Einheiten hätten bei Kämpfen um Konotop und Ochtyrka im Nordosten des Landes bis zu 50 Prozent ihres Personals verloren. "Der moralische und psychologische Zustand des Feindes bleibt extrem niedrig", behauptete der Generalstab in Kiew. Russische Soldaten würden in Scharen desertieren. Der Generalstab warf den russischen Truppen vor, noch schwerere Luftangriffe auf ukrainische Städte zu fliegen. Die Angaben der beiden Kriegsparteien ließen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen.

Selenskij bereit für direkte Gespräche

Selenskij versprach in einer am Montagabend veröffentlichten Videobotschaft, die Hauptstadt Kiew trotz der Kämpfe nicht zu verlassen. "Ich bleibe in Kiew", sagte Selenskij, er verstecke sich nicht und habe vor niemandem Angst.

"Ich bin bereit für einen Dialog. Aber wir sind nicht bereit für eine Kapitulation", sagte Selenskij gegenüber dem US-Sender ABC: "Wir können diskutieren und einen Kompromiss finden, wie diese Gebiete weitermachen können." Wichtig sei, darauf zu achten, wie es den Menschen dort ergehe, die Teil der Ukraine sein wollten. Selenskyj forderte erneut Putin zu direkten Verhandlungen auf.

Anerkennung steht nicht zur Debatte

Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wünscht sich direkte Gespräche zwischen Selenskyj und Putin. Alle wüssten, dass Putin am Ende die Entscheidungen treffe, sagte Kuleba im Fernsehen. "Unser Präsident hat vor nichts Angst, einschließlich eines direkten Treffens mit Putin", erklärt er. "Wenn Putin auch keine Angst hat, soll er zu dem Treffen kommen." Dann könnten sie sich hinsetzen und reden.

Als Bedingung für eine Einstellung der Gefechte fordert Russland, die Ukraine müsse sich in ihrer Verfassung für neutral erklären. Zudem müsse Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch sowie die Separatistengebiete als unabhängig anerkennen. Das stehe für Selenskij aber nicht zur Debatte.

Kuleba und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow sollen sich jedenfalls am 10. März im türkischen Antalya treffen.

USA: Fast alle mobilisierten Soldaten Russlands im Einsatz

Russland ist nach US-Angaben inzwischen mit nahezu allen für den Einmarsch in die Ukraine vorgesehenen Truppen in das Land eingerückt. "Fast 100 Prozent" der in den vergangenen Wochen an der ukrainischen Grenze zusammengezogenen "Kampfkraft" befinde sich inzwischen im Land, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Montag.

Nach westlichen Angaben hatte Russland vor Beginn seines Angriffs mehr als 150.000 Soldaten an den Grenzen aufmarschieren lassen.

"Er hat fast alle von ihnen drinnen", sagte der Pentagon-Vertreter mit Blick auf den russischen Präsidenten Putin. Er bestätigte zudem einen US-Medienbericht, wonach Russland für den Häuserkampf in der Ukraine syrische Kämpfer anwerben will. "Wir wissen, dass sie versuchen, Syrer für den Kampf zu rekrutieren."

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