Explosion der Krim-Brücke: "Russland wird Vergeltung üben"

Samstagmorgen in Kiew: Im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt wurde eine überdimensionale Briefmarke aufgestellt, ein Werk eines ukrainischen Künstlerkollektivs. Sie zeigt die Kertsch-Brücke in Flammen. Fußgänger bleiben vor dem Bild stehen, lachen, machen Selfies.
Die brennende Krim-Brücke ist längst nicht mehr nur ein Bild, sondern Wirklichkeit: Am Samstagmorgen, einen Tag nach dem 70. Geburtstag des russischen Präsidenten Wladimir Putin, kam es zu Explosionen auf der Brücke zwischen dem russischen Festland und der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Ein vom Festland kommender Lkw dürfte explodiert und den Tankwagon eines Güterzugs in Brand gesetzt haben. Putins Prestige-Projekt ist teilweise eingestürzt: Sowohl die Eisenbahnverbindung als auch die Autobahn darauf sind vorerst nicht funktionsfähig. Mindestens drei Menschen sollen dabei gestorben sein.
"Doppelte Niederlage"
Eine "doppelte Niederlage für Putin", nennt der Politikwissenschafter und Russland-Experte Gerhard Mangott den Anschlag. "Die Brücke symbolisiert einerseits Russlands Anspruch auf die Krim. Andererseits ist sie wesentlich für die Versorgung der russischen Truppen in der Ukraine." Militärexperte Oberst Markus Reisner bezeichnet die Brücke als "Lebensader" für die im Südosten der Ukraine stationierten russischen Truppen. Jetzt müsse man ausweichen über die Infrastruktur der annektierten Oblaste, doch die sei wesentlich schlechter ausgebaut.

Ein Paar macht ein Selfie vor der überdimensionalen Briefmarke in Kiew, die den Einsturz der Brücke zeigt. Das Werk stammt vom ukrainsichen künstlerkollektiv Andrusiv V., Serdyukov O., Kalinovska Y. und Visich M.
Die für Russland strategisch und symbolisch wichtige Kertsch-Brücke hat Putin 2018 persönlich eingeweiht. 19 Kilometer lang, verbindet sie das russische Festland mit der annektierten Halbinsel Krim. 250 Milliarden Rubel (etwa 4,1 Milliarden Euro) kostete die Brücke. Angeblich hält sie Erdbeben bis zu einer Stärke von minus neun auf der Richterskala stand. Die Brücke gilt als die längste Brücke Europas und überholte damit die Vasco da Gama Brücke in Portugal (17,2 Kilometer).
Die Ukraine feiert den Anschlag – auch wenn sich die Regierung bisher nicht als hauptverantwortlich erklärt hat und das sehr wahrscheinlich auch nicht tun wird. Ukrainische Medien berichteten unter Berufung auf Sicherheitskreise in Kiew, dass der ukrainische Geheimdienst SBU dahinter stecke. In der Vergangenheit haben ukrainische Offizielle wie der Sekretär des Sicherheitsrates Oleksij Danilow häufig einen möglichen Angriff auf die Krim-Brücke angedeutet. "Die Krim, die Brücke, der Beginn", schrieb Mychajlo Podoljak, Berater des Chefs des Büros von Präsident Wolodymyr Selenskyj, nach dem Anschlag auf Twitter. "Alles Illegale muss zerstört, alles Geklaute muss an die Ukraine zurückgegeben werden, alle russischen Besatzer müssen vertrieben werden."
Der Anschlag dürfte jedenfalls kein Zufall, sondern minutiös geplant gewesen zu sein, vermutet Mangott.
Wie lange die Brücke nun funktionsunfähig bleibt, ist unklar. Am Nachmittag konnten vereinzelt wieder Autos fahren. In russischen Kanälen werde zwar behauptet, man könne den Betrieb der Eisenbahn bis Ende des Monats wieder herstellen, so Mangott, "doch das kann natürlich auch nur Propaganda sein."
Putin unter Druck
Russland werde jedenfalls "Vergeltung" üben, so Mangott und Reisner. Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew, heute stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates, hat in der Vergangenheit sogar mit einem "Tag des Jüngsten Gerichts" gedroht, sollte die Ukraine die Krim angreifen. Gleichzeitig steht Putin nach den letzten Rückeroberungen der Ukraine unter Druck: Hardliner fordern seit längerem den Einsatz "aller Mittel", berichtet Reisner.
Noch am Samstag tauschte Putin als Folge des Anschlags seinen Kommandanten aus: Der neue Armeegeneral Sergej Surowikin gilt als "Held Russland", war in der Vergangenheit in Syrien und davor in der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Krieg. Die Kriegsreporter, Feldkommandeure und die private Kampftruppe Wagner reagierten Medien zufolge begeistert auf die Ernennung des "verantwortungsbewussten" Soldaten.

Einen atomaren Vergeltungsschlag hält Mangott dennoch für unwahrscheinlich: "Wahrscheinlicher ist das Bombardement ziviler Infrastruktur in der Ukraine."
Zeitfenster für nächsten Vorstoß
Ähnlich sieht das Oberst Reisner: "Sehr wahrscheinlich sind jetzt Angriffe auf die kritische Strom- und Energieinfrastruktur der Ukraine sowie weitere Vorstöße der ukrainischen Armee." Die Ukraine könnte etwa in den kommenden Tagen eine dritte Offensive starten, und bei Saporischschja versuchen, vorzustoßen. "Nach Cherson und Charkiw könnte die Ukraine hier versuchen, Richtung Melitopol durchzubrechen und auch noch Landweg zur Versorgung der russischen Truppen zu unterbrechen", so Reisner.
Die in Kiew ausgestellte Briefmarke soll übrigens bald wirklich gedruckt werden, das hat der ukrainische Postchef Ihor Smyljanskyj auf Telegram geschrieben: "Der Morgen war noch nie so ein schöner. Zu diesem Feiertag bringen wir eine neue Marke heraus mit der Krimbrücke - oder vielmehr mit dem, was von ihr übrig ist."
Kommentare