Politisch kann man die Austrotürken dennoch nicht über einen Kamm scheren. „Kurden, Aleviten, Kemalisten oder Linksliberale würden eher nicht Erdoğans AKP wählen“, sagt Soziologe Kenan Güngör. Etwa 50 Prozent der Austrotürken seien jedoch AKP-nahe. Wobei es auch Kurden gebe, die mit der Partei des türkischen Präsidenten sympathisieren. Deren Anzahl habe aber abgenommen, seit die AKP in der türkischen Regierung mit der ultranationalistischen MHP – die eine Nähe zu den Grauen Wölfen hat – eine Koalition einging.
Nur scheinbar paradox ist das Wahlverhalten der türkischstämmigen Bevölkerung in Österreich. Viele wählen in der Diaspora nicht entsprechend ihrer Weltanschauung, sondern rein pragmatisch. So kommt es, dass Konservative oder sogar Nationalisten eher zu Rot oder Grün tendieren. Von Links-Parteien wird erwartet, dass sie Migranten positiv gegenüber stehen und Minderheiten unterstützen.
Da dies auch Minderheiten in der Türkei wie etwa Kurden mit einschließt, hängen AKP-Fans zuweilen allerdings in der Luft. Die neue Wiener Migrantenpartei SÖZ könnte davon profitieren.
Aber zurück zu Erdoğan. Fans assoziieren mit dem Präsidenten den wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei. „Das erhöht ihren Selbstwert“, erklärt Güngör – und vergleicht die Situation mit dem Erfolg einer Fußballnationalmannschaft – wenn „wir“ triumphieren, dann sei das eine „vorgestellte Gemeinschaft“.
Dazu komme die emotionale Bindung an ein Land, in dem viele noch Familie haben – und das sie nur aus dem Urlaub kennen. „Die alte Heimat wird idealisiert“, sagt Güngör. Wobei Austrotürken mit der Lebensqualität in Österreich Umfragen zufolge sehr zufrieden sind.
Wir-Gefühl
Durch Erdoğan empfänden viele Türkischstämmige, die sich in der Diaspora bestenfalls geduldet fühlen, eine Aufwertung. „Er vermittelt ihnen das Gefühl der Anerkennung und der Zugehörigkeit“, erklärt Güngör. Zudem nähre er das Bewusstsein, dass die Türkei kein Entwicklungsland, sondern ein ernst zu nehmender Player in Europa sei. So entstehe zum Teil ein wahrer Führerkult.
Dass freilich nicht alle Austrotürken Erdoğans-Fans sind, belegte die Abstimmung über das Präsidialsystem in der Türkei 2017. Damals nahmen in Österreich nur etwa 50 Prozent der mehr als 108.000 Wahlberechtigten am Urnengang teil (wovon rund 73 Prozent pro Erdoğan entschieden). Dem Rest war entweder der Wahlaufwand zu groß. Oder das Interesse an der türkischen Politik reichte nicht aus.
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