"Europa sollte aufhören zu glauben, man könnte Migration stoppen"

In Seenot geratene Migranten werden von der italienischen Küstenwache nach Palermo, Sizilien, gebracht
Weder Abschreckung noch Wirtschaftshilfe bremsen Emigranten, sagt Ökonomin Mendola: "Migrationspolitik braucht andere Werkzeuge".

In der künftigen Migrationspolitik der EU soll sie eine noch größere Rolle spielen: Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe für afrikanische Länder. Wenn sich dort die Bedingungen („root causes“) besserten, so die Hoffnung, werde dies die Auswanderung bremsen.

Warum diese Annahme falsch ist und deswegen die Migrationspolitik Europas zu scheitern droht, schildert die italienische Ökonomin Mariapia Mendola. Die Wirtschaftsprofessorin an der Universität Mailand Bicocca forscht im Besonderen zur Migration.

"Europa sollte aufhören zu glauben, man könnte Migration stoppen"

Wirtschaftsprofessorin Mariapia Mendola (Universität Mailand Bicocca)

KURIER: Studien zeigen, dass nicht die Menschen in den allerärmsten Staaten auswandern, sondern jene, in denen die wirtschaftliche Entwicklung bereits vorankommt. Warum ist das so?

Mariapia Mendola: Die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes geht immer Hand in Hand mit Emigration, es gibt keine Entwicklung ohne Auswanderung, das gab es nie. Siehe Italien im 19. Jahrhundert oder Lateinamerika in den 80er-Jahren und Afrika eben jetzt. Man hat eine hohe Geburtenrate, sehr viele junge Menschen, aber nicht genügend Jobs. Und gleichzeitig sehen sie auf den Smartphones, wie es in Europa aussieht. Diese jungen Leute haben Erwartungen, wollen etwas aus ihrem Leben machen. Deshalb gehen sie.

Und wenn man mit europäischen Investitionen mehr Jobs in den afrikanischen Staaten schafft?

Damit kann man gegensteuern, aber die Emigration nicht verhindern. So viel Geld, um so schnell so viele Jobs zu schaffen, gibt es nicht.

Wie hoch muss ein Land  entwickelt sein, ehe Auswanderung wieder aufhört? Muss etwa das jährliche  BIP/Kopf bei 10.000 Dollar  liegen?

Eine bestimmte Wegmarke dafür gibt es nicht. Das hängt von Region, Demografie, Jugendüberhang, Sterblichkeit etc. ab. Aber in Mexiko etwa, wo eine Familie im Schnitt früher bis zu sieben Kinder hatte, war die Auswanderung in die USA bis Anfang der 2000er-Jahre sehr hoch. Dann schuf die ökonomische Entwicklung mehr Jobs, dadurch stieg das BIP; ein höheres BIP ist ein Anreiz für mehr Arbeit, im Besonderen für mehr Frauenarbeit. Arbeiten mehr Frauen, sinkt automatisch die Geburtenrate. Mexiko ist heute kein Auswanderungsland mehr.

Wie lange dauert es, bis die Lage in  Afrika so gut ist, dass Menschen nicht mehr emigrieren werden?

Es kann Jahrzehnte dauern. Aber wie wir in der Geschichte sehen, ist Migration immer ein vorübergehendes Phänomen.

Die Mehrheit der Migranten in Afrika wollen überdies in Ländern nahe ihrer Heimat bleiben. Nur ein geringer Prozentsatz macht sich auf nach Europa.

Werden sich Migranten von  strengerem Grenzschutz und schärferen Asylregeln in Europa abschrecken lassen?

Europa sollte aufhören zu glauben, man könnte Migration stoppen. Dieses Ziel ist nicht realistisch. Migration ist ein Faktum. Stattdessen braucht Europa eine Politik, die Migration managt: Man braucht Quoten, um so legale Pfade zum Arbeitsmarkt in Europa zu öffnen und hoch-effiziente humanitäre Korridore für Flüchtlinge.

Die Länder in Europa verstehen noch immer nicht, dass Migration eine Ressource ist und kein Kostenfaktor. Stattdessen wird Migration nur politisiert, viele Politiker arbeiten mit Angst oder Ignoranz.

Dass sich Migranten mit Abschreckung abhalten ließen, sich auf den Weg zu machen, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Dazu gibt es keine Studien, keine Fakten, das ist nur eine Behauptung.

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