20 Jahre EU-Erweiterung: Welche Ängste begründet waren - und welche nicht

Feierstimmung bei der Erweiterung: Junge Ungarn feiern in Budapest am 1. Mai 2004
Am 1.Mai 2004 wurden mit 10 Länder Mitglieder der EU: Was ist geglückt, was ging schief - und was muss die Union anders machen, jetzt, wo die nächsten vor der Tür stehen?

Billiges Getreide und billige Arbeitskräfte würden den EU-Markt überschwemmen, Korruption und Kriminalität würden zum Exportschlager dieser instabilen Demokratien im Osten Europas: Die Ängste, die vor dem 1. Mai 2004 durch Europa geisterten, übertrafen oft die Erwartungen. 

83 Prozent der Franzosen etwa, waren damals gegen die geplante Erweiterung der EU. Was sollte man mit zehn neuen Mitgliedern, deren Wohlstand und Lohnniveau weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts erreichten, die weiterhin an ihrer Vergangenheit im Sozialismus kiefelten und Waren produzierten, die man im Westen nicht brauchen konnte? Zweifel, die frappant an jene erinnern, die heute in Europa umgehen, wenn 9 weitere Länder vor der Tür der EU stehen, allen voran die Ukraine, in der ein Krieg wütet.

Deutschland setzte den Big Bang durch

Es war zuletzt Deutschland und dessen für die Erweiterung der EU zuständige Kommissar Günter Verheugen, der die gleichzeitige Aufnahme der zehn neuen Mitglieder - Rumänien und Bulgarien waren zusätzlich drei Jahre später dran - durchsetzte. Der "Big Bang", wie man ihn damals nannte, sei einfach eine "moralische Pflicht  und historische Gerechtigkeit" gewesen, erklärt Verheugen heute seine Beharrlichkeit. Man habe all diese ehemaligen Staaten des Ostblocks nach dem politischen und wirtschaftlichen Umbruch nicht einfach da draußen im Niemandsland stehen lassen können.

Ganz ähnlich klingt heute Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg wenn er über die aktuellen Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan spricht: Ohne sie sei "Europa nicht vollständig: Wir haben die Wahl zwischen dem Export von Stabilität und dem Import von Instabilität."

Die Arbeitskräfte kamen - und nichts passierte

Exportiert wurden fürs erste einmal Arbeitskräfte, der Zustrom von Menschen aus Osteuropa in die westeuropäischen Arbeitsmärkte war tatsächlich stark. Mehr als zwei Millionen Polen waren 2010 allein in Großbritannien beschäftigt, Österreich hatte in dieser Zeit rund 300.000 Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten. Der polnische Installateur, der im Haushalt quasi alles prompt und besser als die  einheimischen Kollegen erledigen würde, war nicht nur Gegenstand - manchmal schlüpfriger - Witze, er war schlicht eine Tatsache.

Die Polen wurden erst zum Problem, als sie gingen

Der Arbeitsmarkt aber brach darunter keineswegs zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg nicht, die Löhne fielen nicht. Österreich, das sich ja durch langjährige Zuwanderungsbeschränkungen besonders hartnäckig vor den Arbeitskräften aus dem Osten abgeschottet hatte, ging in nachträglichen Berechnungen sogar einiges an Wirtschaftswachstum verloren. Großbritannien bekam erst dann ein Problem mit den Polen, als die in ihre wirtschaftlich prosperierende alte Heimat zurückkehrten, weil in vielen Regionen  die Löhne inzwischen ähnlich hoch waren wie auf der Insel. Als dann der Brexit noch mehr von ihnen dazu brachte, nach Hause zu gehen, eskalierte der Arbeitskräftemangel endgültig. Eine Krise, von der sich Großbritannien bis heute nicht erholt hat.

Die Angst vor dem Großen Bruder blieb

Nicht nur im Westen sorgte die Erweiterung für Ängste, in den osteuropäischen Beitrittsländern fürchtete man sich vor einer vollständigen Übernahme durch westliche Investoren, den Ausverkauf von Grund und Boden und die politische Bevormundung aus Brüssel. Für politische Populisten ein lohnendes Motiv, konnte man doch damit die alten Ängste vor dem "Großen Bruder" wachrufen, der jetzt eben nicht mehr in Moskau saß, aber grundsätzlich das Gleiche tat. Wenn Viktor Orban davon spricht, dass sein Ungarn "politisch vergewaltigt" und "erpresst" werde und auf Wahlplakaten seine politischen Gegner mit EU-Fahnen schmückt, spielt er mit diesen Ängsten - bis heute.

Viele Regionen blieben rückständig 

Ein politisches Erfolgsprinzip, das in Polen von der konservativen PiS-Partei genützt wird, die gerade erst die Macht abgeben musste, oder in der Slowakei von Langzeit-Premier Robert Fico, der sich diese Macht gerade wieder geholt hat. Die Milliardenförderungen der EU  - rund 550 sind seit der Erweiterung in die ehemaligen Ostblock-Staaten geflossen - stören die Populisten dabei gar nicht.

Neue Straßen und alter Pessimismus

Zwar hat die EU-Mitgliedschaft all diese moderner, wohlhabender und wirtschaftlich stärker gemacht, aber die Vor- und Nachteile sind oft sehr unterschiedlich verteilt. Schaut man die Wirtschaftsleistung pro Kopf an, erreichen vor allem die Regionen um die Großstädte von Warschau bis Bratislava mehr als 150 Prozent des EU-Durchschnitts. Abgelegene landwirtschaftlich geprägte Gegenden stagnieren dagegen weiterhin bei 50 Prozent, daran ändern auch die EU-Förderungen in Infrastruktur wenig. Die blauen EU-Schilder auf neuen Straßen, Brücken und Rathäusern nehmen den Menschen dort nicht ihren Pessimismus.

Der "Brain Drain" im Osten geht weiter

Das liegt auch daran, dass Junge und Gutausgebildete von dort längst weggegangen sind - in den Westen, oder auch in die Boomregionen im eigenen Land. Der "Brain drain", so nennt man das Phänomen, reißt nicht ab. Fehlen aber tun all die Ärzte, Krankenschwestern, oder Facharbeiter in den ohnehin wirtschaftlich abgeschlagenen Landstrichen, die dann erst recht nicht vorankommen. Wie arm und rückständig aber man einst unter der kommunistischen Diktatur war, das haben jene, die diese selbst noch erlebt haben, inzwischen vergessen. Und so hört man auch 20 Jahre nach dem EU-Beitritt in vielen Gesprächen: "Unterm Kommunismus war vieles doch besser."

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