"Es sind Merkels Tote": Politikmache mit dem Anschlag in Berlin

"Es sind Merkels Tote": Politikmache mit dem Anschlag in Berlin
In den Sozialen Medien bringen Tausende ihr Mitgefühl mit den Opfern zum Ausdruck. Dass ein Politiker der AfD den Anschlag instrumentalisierte, sorgt für heftige Reaktionen - eine Analyse.

Um 20.41 Uhr vermeldete die Berliner Polizei am Montag erstmals mehrere Verletzte, nachdem ein "LKW über den Gehweg am Breitscheidplatz" gefahren war. Um 21.10 Uhr konnten "neun Tote und viele Verletzte" bestätigt werden. Nur fünf Minuten später war sich Marcus Pretzell, der AfD-Landeschef von Nordrhein Westfalen, bereits sicher. "Es sind Merkels Tote", vermeldete er auf Twitter.

Was damit gemeint ist, bedarf keiner langen Erklärung. Merkel hat sich in der Flüchtlingskrise zum Hassobjekt für die AfD entwickelt. Dass ein Flüchtling, den sie quasi höchstpersönlich ins Land gelassen habe, für den Anschlag verantwortlich sei, macht sie für Pretzell offenbar zur Täterin. "Der Zynismus dieser Worte ist schwer zu überbieten", schreibt Berlin-Korrespondentin Evelyn Peternel in ihrem Kommentar zur politischen Debatte nach den Anschlägen. "Er ignoriert nicht nur die Opfer, er gibt auch den Tätern genau das, was sie wollen: Nicht sie sind am Terror schuld, nicht sie tragen Hass in die Gesellschaft, sondern jene, die für Staatsräson und Offenheit plädieren."

Es geht um Fakten

Darüber hinaus konnte sich Pretzell zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht sicher sein, was die Hintergründe das Attentäters anbelangt. Erst am Dienstagvormittag verdichteten sich Hinweise, dass es sich bei dem Attentäter um einen 23-jährigen Pakistaner handeln könnte, der im vergangenen Jahr über Österreich nach Deutschland eingereist sein soll (Aktualisierung: Derzeit geht die Polizei davon aus, dass es sich bei den in der Nacht gefassten Mann nicht um den Täter handelt - alle aktuellen Informationen dazu finden Sie hier). Die genauen Motive liegen noch immer im Dunkeln, Innenminister Thomas De Maiziere sprach am Dienstagvormittag jedoch davon, dass es keinen Zweifel mehr daran gebe, dass es ein Anschlag war. Anders als Angela Merkel wolle er jedoch noch nicht von einem "Terroranschlag" sprechen.

Wortklauberei? Nein. Es geht nicht darum, die Hintergründe und Motive des Täters zu verschweigen - es geht darum Fakten erst als solche zu berichten, wenn diese auch gesichert sind. Erst dann lassen sich auch politische Schlüsse ziehen. Alles andere ist nicht nur ein Hantieren mit Wahrscheinlichkeiten, es ist böswillige Meinungsmache - daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn sich der Anschlag letzten Endes als islamistisch motivierter Terrorakt herausstellen sollte.

Die Reaktionen folgten denn auch ebenso prompt wie scharf. Der SPD-Bundesvize Ralf Stegner warf Pretzelt politische Meinungsmache vor. "Statt Respekt vor den Opfern schon wieder ekelhafte politische Ausweidung dieser Tragödie durch die AFD und andere rechte Scharfmacher", schrieb er auf Twitter.

Dabei wüsste es Pretzel eigentlich besser, möchte man meinen. Bei dem Attentat in München hatte er noch getwittert, dass man "jetzt nicht verallgemeinern" dürfe. Sein ironischer Nachsatz: "Sicher ist nur, dass Waffenbesitzer schuld sind, oder?"

Schon damals versuchte AfD-Sprecher Christian Lüth, die Ereignisse für seine Partei zu nutzen. "AfD wählen! Schüsse am Olympia Einkaufszentrum: Tote in München - Polizei spricht von Terrorlage!" twitterte er. Auch zum damaligen Zeitpunkt war weder die Identität des Schützen, noch sein Tatmotiv bekannt. Letztendlich handelte es sich um den Deutsch-Iraner Ali David S. - der 18-Jährige war stolzer "Arier" und empfand es als Auszeichnung, am selben Tag wie Adolf Hitler geboren worden zu sein. Jürgen Elsässer, eine der publizistischen Führungsfiguren der neuen rechten Szene in Deutschland, wollte nach dem Anschlag trotzdem nicht daran glauben, dass der Attentäter so gar nicht islamistisch motiviert gewesen sein soll. "Wollt ihr uns verarschen?!", schrieb er auf seinem Blog ganz volksnah. Udo Ulfkotte titelte auf Kopp gar "Merkels 'Fachkräfte' morden weiter". Dass Ali David S. in Deutschland geboren wurde? Geschenkt.

Und nun also Berlin. Am Dienstagvormittag sprang AfD-Vorsitzende Frauke Petry ihrem Lebensgefährten bei und machte die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung mitverantwortlich für den mutmaßlichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. "Das Milieu, in dem solche Taten gedeihen können, ist in den vergangenen eineinhalb Jahren fahrlässig und systematisch importiert worden", erklärte Petry. "Deutschland ist nicht mehr sicher".

Auch aus Österreich kamen mit vorschnellen Schlüssen Schüsse gegen die Politik. "Was tatsächlich widerlich ist, ist die Scheinheiligkeit jener, die die Täter willkommensbeklatscht haben", twitterte Martin Glier, Leiter der FPÖ-Pressestelle im Parlament, um kurz nach Mitternacht als Antwort auf einen angriffigen Tweet.

Auch hier gilt: Zum Zeitpunkt des Tweets waren die näheren Umstände des mutmaßlichen Terroranschlags noch nicht bekannt.

Dass es auch anders geht, zeigte etwa Karsten Woldeit, der innenpolitische Sprecher der AfD Berlin. Er teilte am Abend mit, man trauere mit den Opfern und ihren Angehörigen. "Ein solches Ereignis so kurz vor Weihnachten macht fassungslos und weckt böse Erinnerungen", schrieb er und betonte: "Alle weiteren Spekulationen über das Wer und Warum verbieten sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt."

Auch Heinz Christian Strache, reagierte - wie die meisten Politiker quer durch alle Parteien - mit Beileidsbekundungen: "Ich bin traurig und zutiefst betroffen. Mein aufrichtiges Beileid den Angehörigen der Opfer des feigen Berliner Anschlages auf einen Christkindl- bzw. Weihnachtsmarkt und baldige Genesung den vielen Verletzten!", schrieb der FP-Chef.

"Merkels Tote". Es hat nur Minuten gebraucht, um aus der fürchterlichen Meldung aus Berlin eine Schuldzuweisung zu machen. Tausendfach wurde die im Netz von jenen erhoben, die bereits kurz nach der Attacke gewusst haben wollen, wer da am Werk war, sie wurde aber auch vom größten Verstärker vorschneller Verurteilungen in die Welt geschrien: von der AfD.

Der Zynismus dieser Worte ist schwer zu überbieten. Er ignoriert nicht nur die Opfer, er gibt auch den Tätern genau das, was sie wollen: Nicht sie sind am Terror schuld, nicht sie tragen Hass in die Gesellschaft, sondern jene, die für Staatsräson und Offenheit plädieren. Eine verquere Sicht, mit der die Rechtspopulisten und ihre Fans sich zum willigen Werkzeug der wirklichen Täter machen.

Was es jetzt braucht, sind keine pubertären Fingerzeige nach innen, sondern Besonnenheit und Geschlossenheit nach außen. Natürlich ist das ein schwieriger Drahtseilakt - die politische Debatte, die seit der Flüchtlingskrise ganz Deutschland beherrscht, kann und soll man nicht ausblenden.

Dass Angela Merkel auch diesmal – wie schon beim Münchner Amoklauf - nicht gleich in der Nacht vor die Kameras getreten ist, ist Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten. Aber sie hat Recht damit. Solange man nicht weiß, was wirklich passiert ist, braucht es keine Kampfansage.

Wobei: Einige Worte der Staatsräson wären schon mehr als angebracht gewesen - vor allem, um die eigene rasche Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Merkel muss sich auf heftige Debatten einstellen. Sie muss sich deshalb umso offener der jetzt noch stärker aufbrandenden Kritik stellen - nur eben nicht auf dem Niveau, das die AfD ihr vorgibt.

Das betrifft nicht nur Merkel, das betrifft die ganze Politik. In Deutschland. Und in Europa. Alle müssen aufpassen, im immer lauter werdenden Schreikonzert ihre besonnene Stimme zu wahren. Sonst gewinnt die Angst - und damit auch der Terror.

(Evelyn Peternel)

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