Erdbebendiplomatie
Ein erstes Signal eines möglichen Endes der Eiszeit gab es bereits Anfang des Jahres, als der Süden der Türkei von einem verheerenden Erdbeben getroffen wurde. Athen hatte dem Nachbarn sofort Hilfe geschickt. Der griechische Verteidigungsminister Nikos Dendias reiste als erster ausländischer Politiker – damals noch Außenminister – ins Katastrophengebiet.
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Kurz darauf, Mitte März, besuchte Mitsotakis den türkischen Präsidenten in Istanbul. Es folgte ein einstündiges Treffen zwischen Mitsotakis und Erdoğan im Juli am Rande des NATO-Gipfels in Vilnius. Anschließend teilte man der Öffentlichkeit mit, die Annäherung fortsetzen zu wollen. "Unsere Probleme wurden nicht auf magische Weise gelöst", sagte Mitsotakis damals. "Aber das heutige Treffen hat meine Absicht und die von Präsident Erdoğan bestätigt, die griechisch-türkischen Beziehungen neu zu gestalten." Am Rande der UN-Vollversammlung in New York im September traf man sich wieder.
Signal an den Westen
Vor allem Erdoğan ist dafür bekannt, je nach Interessen einen Kurswechsel zu vollziehen. Die Türkei braucht angesichts ihrer wirtschaftlich angespannten Lage ausländische Investitionen und Devisen. Für Erdoğan dürfte aber auch ein anderes Motiv vorrangig sein: Die Türkei ist seit Monaten um einen Deal mit den USA um amerikanische F-16-Kampfjets bemüht. Der spielt etwa auch bei der türkischen Zustimmung zu Schwedens NATO-Beitritt eine Rolle. Eine Verbesserung der Beziehungen mit dem NATO-Staat Griechenland ist daher auch ein Zeichen nach außen, an die USA und die EU: Seht her, die Türkei ist ein verlässlicher NATO-Partner!
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Auch beim Thema Migration ist man aufeinander angewiesen: Ankara schickte zuletzt mehr Soldaten an die griechische und bulgarische EU-Außengrenze, während Athen und Sofia versprachen, keine Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken. Sowohl Griechenland als auch die Türkei kämpfen gegen den Ruf als "Transitland" für Flüchtlinge.
Die Flüchtlingsfrage war auch Thema der Wahlen, die beide Regierungschefs heuer zu schlagen hatten. Erdoğan wurde im Mai zwar in eine Stichwahl gedrängt, aber im Amt bestätigt; Mitsotakis wurde im Juni wiedergewählt. Vor alle Mitsotakis will nun liefern: Dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR kamen seit Jahresanfang bis Ende November rund 36.000 Flüchtlinge, dreimal so viele wie im gesamten Vorjahr, per Boot in Griechenland an. Mitsotakis will mehr Zusammenarbeit mit Erdoğan, unter anderem strengere Kontrollen in der Ägäis.
Im Gegenzug dürfte sich Mitsotakis dafür einsetzen, dass die Visabedingungen für türkische Staatsbürger in der EU gelockert werden – ein ewiger Wunsch Erdoğans. Mitsotakis selbst könnte zuvor schon Visaerleichterungen in Griechenland anbieten, etwa für türkische Studierende.
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Die großen Streitpunkte wie Hoheitsrechte in der Ägäis oder die Zypern-Frage dürften dafür heute ausgeklammert werden. Das griechische Staatsfernsehen ERT berichtete von insgesamt 20 bilateralen Abkommen aus den Bereichen Tourismus, Wirtschaft, Energie, die am Donnerstag in Athen verkündet oder unterzeichnet würden.
Bevölkerungen für Annäherungsprozess
Im nationalistischen Flügel Mitsotakis' konservativen Nea Dimokratia, wird der Besuch Erdoğans gar abgelehnt. Eine große Mehrheit der Bevölkerungen Griechenlands und der Türkei unterstützt einer Umfrage der griechischen Stiftung Eliamep zufolge jedoch den Annäherungsprozess. Mehr als 70 Prozent der Befragten in beiden Ländern stimmen der Ansicht, ihre jeweilige Regierung solle die Verbesserung der Beziehungen zum anderen Land zur Priorität machen, teilweise oder vollständig zu.
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