Fast ausdruckslos blickt Min-Soo auf die Wellen im Fluss. Das Morgenlicht lässt das Wasser glitzern. Nichts ist zu hören, nur das Plätschern und das Rascheln der Bäume. Bis Min-Soo sagt: "Gestern wurden wieder zwei tote Kinder aus dem Wasser gezogen."
Obwohl seine Strömung sanft ist, bleibt der Fluss Imjin hier, in der Demilitarisierten Zone (DMZ) an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, einer der tödlichsten der Welt. Vor allem im Sommer, wenn der Wasserstand niedrig ist, versuchen Menschen aus dem Norden, ihn zu durchqueren. Wen die nordkoreanische Armee erwischt, der wird sofort erschossen. Wer ihr entgeht, fällt meist einer der tausenden Tretminen zum Opfer.
➤ Hier lesen Sie unsere Reportage zur angespannten Situation an der nordkoreanischen Grenze
Auch Min-Soo diente hier als Soldat, allerdings auf südkoreanischer Seite. Heute ist er Touristenführer. Auf der "Friedensbrücke", einer Aussichtsplattform über dem Imjin, zeigt er täglich die Schrecken des Regimes im Norden auf. "Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wer die Kinder waren", sagt er und schüttelt den Kopf. "Sie sind nur eine weitere Nummer in unserer Statistik."
In diesem Artikel lesen Sie:
- Zahlen und Fakten zu nordkoreanischen Flüchtlingen (Geschlecht, Fluchtgründe)
- Die häufigsten Fluchtrouten in einer interaktiven Karte
- Was nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea erwartet
Das nördliche Ufer des Imjin markiert den Beginn einer anderen Welt. Einer Welt, in der Hunger und Gewalt regieren. In der im Schnitt täglich mehr als 100 Menschen in Gefangenschaft sterben. Und aus der, abgesehen von den oft skurrilen Machenschaften des Diktators Kim Jong-Un, fast nichts nach außen dringt.
Wer aus dieser Welt entkommen will, riskiert dabei nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der eigenen Familie – Sippenhaftung ist Alltag. Und doch entkommen jährlich Menschen, wenn auch zuletzt immer weniger.
Der direkte Weg in den Süden ist der mit Abstand gefährlichste: Knapp 750.000 Soldaten hat das Regime im Umland der DMZ stationiert, mehr als zwei Drittel der nordkoreanischen Armee. 2017 gelang dort letztmals einem Deserteur die Flucht: Das Video des Soldaten, der im Grenzort Panmunjom nach Schüssen seiner Kameraden schwer verletzt von der südkoreanischen Armee geborgen wurde, ging um die Welt.
China und Russland schieben nordkoreanische Flüchtlinge in die Heimat ab
Die meisten Flüchtlinge machen es sich also zum Ziel, eine südkoreanische Botschaft in einem sicheren Drittstaat zu erreichen, um dort Asyl zu beantragen. Das Problem dabei: Die einzigen direkten Nachbarstaaten Nordkoreas, Russland und China, sind enge Verbündete des Regimes. In beiden Ländern werden gefasste nordkoreanische Flüchtlinge wieder in ihr Heimatland abgeschoben – ein direktes Ticket ins Arbeitslager.
80 Prozent der Flüchtlinge fliehen trotzdem zunächst nach China. Meist gelingt es ihnen, Schlepper zu bezahlen oder Soldaten an der Grenze zu bestechen. In die mehrheitlich koreanischsprachige Minderheit im chinesischen Grenzbezirk Yanbian können sich die Überläufer recht leicht eingliedern und ihre weitere Flucht planen.
Südkoreanischen Schätzungen zufolge leben heute knapp 100.000 Nordkoreaner unter falscher Identität in Yanbian. Viele müssen Zwangsarbeit leisten, weil sie sich bei ihren Schleppern verschuldet haben – Frauen, die einen Großteil der Flüchtlinge ausmachen, landen meist in der Prostitution.
Die meisten Nordkoreaner fliehen nach Thailand und in die Mongolei
Von Yanbian aus beginnt die weite Reise in einen der beiden nahe gelegenen, sicheren Drittstaaten, die Nordkoreanern Asyl gewähren: Thailand und die Mongolei.
Der Weg in die Mongolei ist der Kürzere, führt aber hunderte Kilometer durch die unbewohnte Wüste Gobi. Hier fällt man auf. Um unbemerkt nach Thailand zu gelangen, müssen Flüchtlinge hingegen ans andere Ende Chinas, um in der Großstadt Kunming den Bus zu nehmen. Weil auch die chinesische Polizei von der Route weiß, werden dort verstärkt Kontrollen durchgeführt.
Sicher ist erst, wer in Thailand oder der Mongolei in einer südkoreanischen Botschaft Asyl beantragt. Weil Seoul auch den Norden als Staatsgebiet beansprucht, erhalten Nordkoreaner automatisch die Staatsbürgerschaft und werden in ihre neue Heimat ausgeflogen. Der Staat bezahlt ihnen eine dreimonatige Einschulung sowie eine neue Ausbildung – und entlohnt sie großzügig, sollten sie Informationen über das Regime im Norden preisgeben.
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