Unbeliebter Starmer: Die ersten 100 turbulenten Tage des Labour-Premiers
Sogar das Wetter spielte anfangs zu seinen Gunsten. Kurz bevor Keir Starmer am 5. Juli unter Jubelrufen das erste Mal zum Redepult in der Downing Street schritt, war die Sonne durch die Wolkendecke gebrochen. Mit staatsmännischer Ruhe sprach der neue Labour-Premierminister von Neubeginn, Veränderung und der schwierigen, aber machbaren Aufgabe, das Vertrauen der britischen Bevölkerung wieder gewinnen zu wollen.
Der Wahlsieg ist nun 100 Tage her – und sein Ziel könnte nicht entfernter sein. Nur drei Monate nach der Wahl ist Keir Starmer so unbeliebt wie noch nie. Laut Spectator ist er sogar – abgesehen von Liz Truss – der Premier, der am schnellsten bei seinem Volk in Ungnade gefallen ist. Wie konnte es soweit kommen?
Eifriger Einstieg
Zunächst war der Arbeitseifer beeindruckend. Innerhalb von 72 Stunden setzte Starmers Team ein Konvolut an Entscheidungen durch: Der umstrittene Ruanda-Deal wurde vom Tisch gefegt; der neue Außenminister machte sich auf den Weg nach Europa, um die Beziehungen zur EU zu verbessern; die Justizministerin nahm sich des Problems überfüllter Gefängnisse an.
Keine zwei Wochen später konnte der neue Gesundheitsminister Wes Streeting den längsten Ärztestreik in der Geschichte der NHS beilegen und Keir Starmer hatte bereits, in einem Versuch, das Land zusammenzubringen, alle vier Nationen des Vereinigten Königreichs besucht.
Doch bereits gegen Monatsende bekam das Bild der harmonischen Labour-Partei erste Risse. Als sieben Abgeordnete entgegen Keir Starmers Anordnung für eine Abschaffung der Zwei-Kinder-Begrenzung beim Kindergeld stimmten, wurden sie vom Regierungschef für sechs Monate suspendiert. Zum Unmut über die scharfe Reaktion – "was macht das mit der Diskussionskultur?", fragte die Abgeordnete Nadia Whittome im Guardian – mengte sich das Unverständnis, wie der Labour-Chef eine familien- und arbeiterunfreundliche Tory-Regelung verteidigen konnte.
Spitzenpolitiker statt Senioren unterstützt
Der Ärger wuchs, als Labour (in einem Versuch, das von Finanzministerin Rachel Reeves gefundene 26-Milliarden-Euro-Budgetloch zu stopfen) ankündigte, den Heizkostenzuschuss für Pensionisten zu kürzen und damit einmal mehr bei einer Gruppe den Sparstift ansetzt, die ohnehin oft knapp bei Kasse ist. Die Medien kannten tagelang kein anderes Thema; die Gewerkschaften probten den Aufstand.
Und dann, als Keir Starmer wohl dachte, die Stimmung könnte nicht viel weiter kippen, wurde ihm das Wohlwollen von Waheed Alli, Multimillionär und Labour-Gönner, zum Verhängnis. Alli hat der Partei in 20 Jahren mehr als eine halbe Million Euro gespendet. Davon gingen zuletzt 24.000 Euro direkt an Keir Starmer – in Form von Designeranzügen, edlen Brillen und Kleider für seine Ehefrau Victoria. Während der Premier zur Causa schwieg, wurde die Liste der Freebies immer länger. Mittlerweile beläuft sie sich auf Geschenke im Wert von umgerechnet 120.000 Euro.
Rosie reichts
"Der Schmutz, die Vetternwirtschaft und die Habgier" um Keir Starmer und sein Team seien so offensichtlich, dass sich Labour-Abgeordnete Rosie Duffield Ende September gezwungen sah, aus der Partei auszutreten. Sie wird künftig als freie Abgeordnete im Parlament vertreten sein. In einem wütenden offenen Brief warf sie Keir Starmer einen "managerhaften und technokratischer Ansatz" vor, und dass jene, die Gratisgeschenke angenommen hatten, die Partei beschmutzt und gedemütigt hätten.
Ihr Austritt war laut britischer Medien der schnellste Ausstieg einer Parteiabgeordneten nach Neuwahlen in der Geschichte.
Das Urteil von Politikprofessor Tim Bale von der Queen Mary University ist deshalb eindeutig: "Das ist mit Abstand der schlechteste Start einer Regierung seit Menschengedenken – und es war ja nicht so, dass Labour so beliebt gewesen wäre."
Die richtigen Entscheidungen
Ganz sei die Regierung aber noch nicht verloren: "Sollte es der Labour-Regierung gelingen, in den Bereichen Wirtschaft und Gesundheit Erfolge vorzuweisen, könnte sie bei den nächsten Parlamentswahlen trotz allem gute Chancen haben, zumindest als stärkste Partei hervorzugehen."
Doch zuvor müssen Keir Starmer und seine Schatzkanzlerin Rachel Reeves die für 30. Oktober angekündigten Haushaltsreformen bewältigen. Die geplanten Budget-Maßnahmen dürften den Staat nämlich weiter verschulden. Die Erhöhung der Staatsschulden von Vorgängerin Liz Truss (in ihrem Fall durch unfinanzierte Steuererleichterungen) hatten den Finanzmarkt derart erschüttert, dass sie zum Rücktritt gezwungen war.
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