"Eine herbe Niederlage", nennt es der bisherige Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch in der Rheinischen Post. Bei Linke-Ikone Gregor Gysi ist es wohl Enttäuschung, die heute überwiegt. Gegenüber dem MDR sagt er, er finde es "unmoralisch", dass die Abgeordneten, die die Fraktion verlassen und ihre Mandate mitgenommen hätten. Kämpferisch zeigte sich zuletzt der Parteivorsitzende Martin Schirdewan: "Die Partei hat Lust, zu kämpfen und wir haben auch Lust, unsere politische Aufgabe und unsere politische Rolle in der Gesellschaft wieder besser auszufüllen als es uns mit diesem Dauerkonflikt gelungen ist", sagte er am Parteitag vor wenigen Wochen dem ZDF.
Welches Gefühl auch dominiert: Dass die Linksfraktion 18 Jahre nach ihrer Gründung im September 2005 im Deutschen Bundestag von diesem Mittwoch an Geschichte ist, ist eine Zäsur. Die 38 ehemaligen Mitglieder stehen im Parlament nun als Einzelkämpfer da.
Zehn davon werden sich künftig dem "Bündnis Sahra Wagenknecht" zuordnen, das kommende Woche den Gruppen-Status beantragen soll. Mit dem Abgang dieser zehn Mitglieder fehlt der Linkspartei nun die Mindestgröße für eine Fraktion.
Quo vadis, Linke?
Optimistisch Gestimmtere sprechen von einer "Chance", die sich jetzt biete: Nach der Ankündigung der Ex-Linken Sahra Wagenknecht im Oktober, Anfang nächsten Jahres eine eigene Partei zu gründen, könne nun, nach Monaten des Streits und der öffentlichen Diffamierung, endlich das interne Kriegsbeil begraben und und eine inhaltliche Einheit geschaffen werden. Oder?
Die Mindestgröße einer Fraktion im Bundestag beträgt 37 Mitglieder. Fraktionslose Abgeordnete können sich zu einer Gruppe zusammenschließen. Eine Gruppen hat im Bundestag weniger Rechte als ein Fraktion, bekommt weniger finanzielle Unterstützung, weniger Ausstattung. Fraktionslose Abgeordnete können in ihrer Redezeit beschnitten werden, sie dürfen aber weiterhin Anfragen stellen. Mit weniger Geld können allerdings auch weniger Mitarbeiter angestellt werden: Die Linke muss im Rahmen der Auflösung etwa 100 Mitarbeiter kündigen.
Doch ganz so einfach ist es nicht: Wohin die Linke gehen soll, darin scheiden sich die Geister.
Die Parteispitze will die Linke für soziale Bewegungen auf der Straße öffnen, für Aktivistinnen und Aktivisten. Sie setzt auf junge Wählerinnen und Wähler von SPD und Grünen, die von der Ampelkoalition enttäuscht sind und ihre Ideale verraten sehen – vor allem angesichts der härteren Migrationspolitik, auf die sich die Regierung geeinigt hat. Die Linke soll die progressivste Kraft im Land werden, der Gegenpol zur AfD. Landesverbände meldeten bereits mehrere Hundert Neuzugänge, darunter viele Aktivistinnen und Aktivisten.
Bestes Beispiel für den Plan: die ehemalige Seenotretterin und UmweltaktivistinCarola Rackete, die zur Co-Spitzenkandidatin für die EU-Wahl gewählt wurde.
Doch nicht nur Rackete, auch der Plan der Parteispitze hat nicht nur Fans innerhalb der Linke. Vor allem nicht im Osten.
Pragmatismus statt Idealismus
So mancher Genosse dort ortet die Gefahr, dadurch das ostdeutsche Stammklientel zu verschrecken. Ostdeutschland gilt nach wie vor als Basis für die Linken. Hier stellt sie Bürgermeister, Landräte, mitBodo Ramelow in Thüringen sogar einen Ministerpräsidenten. Die Wählerschaft sind dort weniger Aktivisten, sondern eher die ältere Bevölkerung. Die hole man mit "urlinken" Themen und Pragmatismus mehr ab als mit idealistischem Aktivismus, so die Kritik: etwa mit der Forderung nach höheren Löhnen, Maßnahmen gegen Kinder- und Altersarmut bis hin zur Stärkung der Infrastruktur in den verlassenen, ländlichen Regionen.
Allerdings sind es gerade soziale Themen, in denen es Überschneidungen mit der künftigen Konkurrenz Wagenknecht gibt: Höhere Pensionen, höhere Steuern für Reiche, einen höheren Mindestlohn und bessere Bildung fordern beide Gruppen. Unterschiede gibt es dafür bei Migration und Klimaschutz: Die Linke will eine großzügige Aufnahme von Geflüchteten und eine Wirtschaft ohne zusätzliche Treibhausgase ab 2035. Wagenknecht will dagegen weniger Geflüchtete aufnehmen und die deutsche Industrie aus Wettbewerbsgründen weiterhin mit Gas aus Russland anreiben.
Im September kommenden Jahres stehen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg an. Sie gelten als Bewährungsprobe sowohl für die Wagenknecht-Partei als auch für die Linke, ob ein Comeback als Fraktion bei der Bundestagswahl 2025 realistisch ist (Umfragen sehen sie aktuell bei 3,5 Prozent unter der Fünf-Prozent-Marke). Die Genossen im Osten betonen: Dafür müsse die Linke ein deutliches Signal an die Ostdeutschen senden.
2005 zog die Linksfraktion unter Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, heute Ehemann von Sahra Wagenknecht, in den Bundestag ein. Die Fraktion gab es zuerst, bevor 2007 die Westpartei WASG und die SED-Nach-Nachfolgerin Linkspartei.PDS zur Partei Die Linke fusionierten. Die Neugründung schoss bei der Bundestagswahl 2009 auf einen Spitzenwert von 11,9 Prozent und hatte 2013 und 2017 noch um die 9 Prozent. 2021 stürzte sie dann auf 4,9 Prozent ab. In diesem Jahr hatte Ex-Linke Sahra Wagenknecht ihr Buch "Die Selbstgerechten" veröffentlicht und mit ihren Genossen abgerechnet.
Vielleicht der letzte Trumpf im Ärmel der Linkspartei: die "historische Heimat", die sie vielen Ostdeutschen biete." "Sie war das Integrationsvehikel vieler Ostdeutscher. Sie ist ein identitätsmerkmal, das für den Schmerz, das Leid und die Kränkungserfahrung der Ostdeutschen nach der Wende steht", sagt etwa der Zeit-Journalist und Linke-Beobachter Robert Pausch. Persönlichkeiten wie Gysi, der die Entwicklung der vormaligen DDR-Staatspartei SED bis zur Linkspartei vorangetrieben hatte, hätten maßgeblich zur Etablierung dieser beigetragen.Auch deswegen dürfe ein Erfolg einer neuen Wagenknecht-Partei dort nicht als selbstverständlich gelten.
Die Linke, ein "ostdeutsches Lebenswerk, eine große biografische Geschichte". Jetzt muss sie nur aufpassen, dass sie nicht nur Geschichte bleibt.
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