Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle: Eine Überlebende erzählt vom Umgang mit dem Erlebten

Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle: Eine Überlebende erzählt vom Umgang mit dem Erlebten
Naomi Henkel-Gümbel hat den Anschlag in der Synagoge überlebt und ist Nebenklägerin im Prozess. Im Gesprächt erzählt sie von den vielen offenen Fragen und traumatisierender Berichterstattung.

Mit einem Gefühl der Erleichterung, dass nichts passiert ist, beendete Naomi Henkel-Gümbel an diesem Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Fest, das Nachmittagsgebet. Vor einem Jahr war das anders. Mit einer Gruppe aus Berlin war sie nach Halle an der Saale gefahren, um dort die Feiertage zu verbringen. Auch, weil die Gebetshäuser in der Hauptstadt immer so voll sind.

Am 9. Oktober ist sie zur Mittagszeit gerade mitten im Gebet, als sie einen Knall hört. Niemand brach in Tränen aus, alle blieben ruhig, erinnert sie sich. Die 29-Jährige sitzt in einem Café in Kreuzberg, unweit ihrer Berliner Synagoge, wo sie zur Rabbinerin ausgebildet wird.

In den vergangenen Monaten war sie oft in Magdeburg – als Nebenklägerin im Prozess gegen den Täter, „um die Hintergründe zu verstehen“. Etwa, ob es wirklich ein Einzeltäter war, obwohl er sich in einer Online-Community austauschte; und ob es tatsächlich möglich war, dass niemand in seinem Umfeld davon wusste. Oder, wie die Polizei zu dem Schluss kam, dass sie zu Jom Kippur die Synagoge nicht schützen müsse. Gleichzeitig will sie das Narrativ mitbestimmen. Sie ärgert sich über die Erzählung „der guten deutschen Eichentüre, die alle rettete“. Und, ob es wirklich notwendig sei, dass Medien den Täter mit Namen und Fotos abbilden. Das führe bei den Betroffenen zu einer Traumatisierung, sagt sie – und gibt ihm Aufmerksamkeit. Genau das wollte einer, der ein Manifest schrieb und seine Tat fürs Internet live mitfilmte.

Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle: Eine Überlebende erzählt vom Umgang mit dem Erlebten

Naomi Henkel-Gümbel

Sicherheit: Bürokratische Hürden für Gemeinden

Für ähnlich gestrickt halten Sicherheitsexperten den 29-Jährigen, der letzten Sonntag einen jüdischen Studenten vor der Hamburger Synagoge verletzte. Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Mordes. Die Attacke löste wie schon nach Halle eine Debatte über die Sicherheit jüdischer Einrichtungen aus. Eine Befragung des Mediendienstes Integration zeigte, dass in vielen Bundesländern die Polizeipräsenz teilweise oder temporär erhöht wurde. Zudem stünden Gelder für bessere Sicherheitskonzepte bereit, heißt es.

Wie schwierig das aber für die Gemeinden in der Praxis ist, weiß Ronen Steinke, Journalist der Süddeutschen Zeitung. Seine Recherchen zum Buch „Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ offenbaren die bürokratischen Hürden, die Funktionäre und Mitglieder überwinden müssen: Von der Dokumentation der Sicherheitslücken bis zur Antragstellung und Genehmigung. Er sieht den Staat in der Pflicht, die Kosten für die Gefahrenabwehr zu übernehmen. „Wenn wir das nicht sicherstellen, ist Religionsfreiheit nicht viel Wert, sagte er kürzlich bei einer Podiumsdiskussion. Gleichzeitig wies er daraufhin, wie „pervers“ es sei, dasss jüdische Einrichtungen überhaupt bewacht werden müssen - „ein Belagerungszustand“.

Naomi Henkel-Gümbel findet es gut, dass darüber diskutiert wird und hofft, dass die Menschen mehr sensibilisiert werden und sich solidarisch zeigen. Allerdings musste sie auch feststellen, dass es nach wie vor als Minderheitenthema gilt. Dabei gehe es die ganze Gesellschaft an. Die Frage „Sitzt ihr auf gepackten Koffern?“, die Juden oft gestellt wird, findet sie falsch. Jeder müsse sich fragen, ob er in einem Land leben wolle, wo so etwas passiere. „In Halle hat sich gezeigt, dass der Täter keine Unterschiede macht und auf jeden schoss, der sich ihm entgegenstellte.“ So wie Jana S., eine 40 Jahre alte Hallenserin, die den Angreifer vor der Synagoge angesprochen hat.

Therapie-Angebote ausbauen

Henkel-Gümbel erinnert sich an das Gefühl, nicht zu wissen, wer draußen getötet wurde und ob es vielleicht mehrere Täter sind. Sie hatte danach Panikattacken, wollte zunächst nicht zum Prozess fahren. Überhaupt hat sie das Gefühl, dass das Angebot für Betroffene von antisemitischen Attacken ausgebaut werden muss. Einen Therapie-Platz zu finden ist ohnehin schon schwer und nicht selten wissen Therapeutinnen und Therapeuten nicht, wie sie mit der Thematik umgehen sollen.

Denn die jüngsten Verletzungen wirken auf Betroffene, die aus Familien von Holocaust-Überlebenden kommen, anders ein. Deren Leid wird oft unterbewusst übertragen und prägt. Das weiß sie aus Erfahrung. Ihre Großeltern haben das Konzentrationslager überlebt, Gelegenheit, mit ihnen darüber zu sprechen, hatte sie nie. Beide sind früh verstorben. Ihr Vater erfuhr erst später, was seine Eltern durchlitten haben.

Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte ist das Eine, das Andere ist für die 29-Jährige nun der Prozess und die Folgen. Bevor er Anfang Juli losging, hat man sich in der Gruppe der Betroffenen nie wirklich über das Geschehene ausgetauscht. Erst vor Ort wurde ihr durch die Aussagen der anderen klar, „welche Welten von uns in die Brüche gegangen sind und was jeder in dem Moment durchgemacht hat, obwohl alle so gefasst waren“.

Letztlich führten die Tage vor Gericht bei ihr zu einem Wendepunkt – durch das Wissen, dass der Täter hinter Gitter kommt, die Aufmerksamkeit für ihn schwinden und er keine Macht mehr über ihr Leben haben wird. „Ich habe die Deutungshoheit über das Erlebte.“

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