„Nö“, antwortete der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntagabend auf die Frage von Journalisten, ob er das desaströse Wahlergebnis seiner Partei kommentieren wolle. Er, der von seiner Partei in den Mittelpunkt des EU-Wahlkampfs gestellt worden war. Während Emmanuel Macron nach einer krachenden Niederlage in Frankreich Neuwahlen für das Parlament ausrufen ließ, wird Scholz aller Voraussicht nach das machen, was er meistens tut: die Lage aussitzen.
Grüne: Habeck zu "wirtschaftsliberal“
Mit dem dritten Platz und 13,9 Prozent der Stimmen fuhr die SPD das schlechteste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl ihrer Geschichte ein, unterbot jenes von 2016 um noch einmal 1,9 Prozentpunkte. Während einige Genossen, darunter SPD-Geschäftsführer Kevin Kühnert Selbstkritik übten, aber Neuwahlen ausschlossen, schweigt der Ampel-Kanzler.
Noch härter traf das Urteil der deutschen Wähler die Grünen: Das Rekordergebnis von 2019 (20,5 Prozent) schmolz um 8,6 Prozentpunkte, die Regierungspartei landete auf dem vierten Platz, verlor vor allem bei den Jungwählern massiv an Stimmen. Weder Außenministerin Annalena Baerbock noch Wirtschaftsminister Robert Habeck waren am grünen Wahlabend anwesend. Letzteren machten Parteilinke für das Desaster eher verantwortlich: Habeck agiere zu „wirtschaftsliberal“.
Demgegenüber stehen die Motiv-Umfragen bei den Wählern: Während der Klimaschutz für 14 Prozent wichtig war – und damit um neun Prozentpunkte weniger wichtig als vor fünf Jahren, standen Themen wie „Friedenssicherung“ (26%), „Soziale Sicherheit“ (23%), „Zuwanderung“ (17%) vor dem grünen Kernthema. Für 13 Prozent war das Wirtschaftswachstum ein wichtiges Thema (plus drei Prozentpunkte).
Söder als Kanzlerkandidat?
Davon konnte die Wirtschaftspartei FDP allerdings nicht profitieren: 5,2 Prozent der Stimmen entfielen auf sie. Wie Finanzminister Christian Lindner reagieren wird und ob er der Ampel den Stecker zieht, ist derzeit unklar. FDP-intern wird das Ergebnis als Sieg gefeiert, da man damit in einer Bundestagswahl die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen hätte.
Addieren alle Ampel-Parteien ihre Stimmen, kommen sie knapp über das Ergebnis von CDU/CSU – mit 30 Prozent errang die Union klar den ersten Platz, gewann 1,2 Prozentpunkte dazu. Die Neuwahl-Forderungen der stärksten deutschen Oppositionspartei dürften ungehört verhallen, bis zur Bundestagswahl im kommenden Jahr können sich die Christlichsozialen in Stellung bringen. Dieser Prozess dürfte allerdings noch herausfordernd werden, wenn sich etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder als Kanzlerkandidat bewirbt. In derzeitigen Kanzler-Umfragen liegt Friedrich Merz jedoch klar vor den Kandidaten anderer Parteien.
Die größten Zugewinne in Deutschland konnte die AfD für sich verbuchen: Mit 15,9 Prozent kam sie klar auf den zweiten Platz, gewann knapp fünf Prozentpunkte dazu. Bei den 16-24-Jährigen waren es ganze elf Prozentpunkte. In Ostdeutschland gewann die Rechtspartei klar – und das dürfte ein Vorgeschmack auf die Landtagswahlen sein, die in drei ostdeutschen Bundesländern im Herbst stattfinden.
Konkurrenz dürfte die AfD vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bekommen – 6,2 Prozent erreichte die neue Partei bei der EU-Wahl aus dem Stand. Auch sie ist vor allem in Ostdeutschland stark.
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