Der vergessene Konflikt: Was hinter dem Krieg im Jemen steckt
Im Jemen-Konflikt tut sich derzeit ein neues Kapitel auf: Während Saudi-Arabien langsam aber sicher von seinen Verbündeten im Stich gelassen wird, eskaliert im Süden des kriegsgebeutelten Landes ein neuer Konflikt: Separatisten vom sogenannten südlichen Übergangsrat (STC), die sich vom Norden abspalten und einen eigenen Staat gründen wollen, besetzten am Sonntag mehrere Lager in der wichtigen Hafenstadt Aden von Truppen der international anerkannten Regierung.
In der strategisch wichtigen Stadt kam es nach UN-Angaben seit Mittwoch zu Kämpfen mit mindestens 40 Toten und 260 Verletzten. Rebellen, die mit dem STC verbunden sind, hatten Aden am Samstagabend überrannt und dabei auch den Präsidentenpalast eingenommen. Dort sind mehrere Büros der Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansour Hadi untergebracht. Die Präsidialgarde habe den Komplex kampflos geräumt, berichteten einheimische Quellen. Einige seien sogar zu den Separatisten übergelaufen. Hadi und die meisten seiner Minister arbeiten aus Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad.
Zwischen Regierungstruppen und Separatisten kommt es seit Mittwoch zu verstärkten Kämpfen. Beide Seiten kämpfen eigentlich gemeinsam gegen die schiitischen Houthi-Rebellen, die vom Iran unterstützt werden. Zwischen beiden Seiten deutet sich aber ein zunehmender Bruch an.
Vor allem die Bevölkerung leidet massiv unter den Gräueln des Krieges: Nach Angaben von Hilfsorganisationen stirbt alle zehn Minuten ein Kind im Jemen an den Folgen vermeidbarer Krankheiten und Mangelernährung. „400.000 Kinder sind lebensbedrohlich mangelernährt und könnten jede Minute sterben“, warnt die UNICEF-Regionaldirektor für den Mittleren Osten und Nordafrika, Geert Cappelaere. Mehr als elf Millionen Kinder seien im Bürgerkriegsland auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF führt im Jemen derzeit seinen weltweit größten Nothilfeeinsatz durch. Vor allem werden Behandlungszentren eingerichtet, um sich um akut mangelernährte Kinder zu kümmern. Krankheiten wie Cholera richten Tausende zugrunde.
"Starke religiöse Rhetorik"
Mehr als 70.000 Menschen sind laut UN-Angaben seit 2014 gestorben. Die Houthis halten laut dem Jemen-Experten Alexander Weissenburger vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bewusst Nahrungsmittel zurück und wollen die Zivilisten Glauben machen, dass die Schuld nur bei ihren Gegnern liegt. Nur so könnten sie ihre propagierte Mission unters Volk bringen.
Ihr Erfolgsrezept: Nostalgie. Weissenburger: „Mit alten Bildern der frühen Imame wollen sie zeigen, wie gerecht und gut ihre Vorgänger waren und wollen sich diese Nostalgie an die Fahnen heften.“ Derweil hätten die Rebellen selbst kein Konzept, die Wirren des Krieges zu entflechten: „Nach außen kommunizieren sie, dass sie eine Republik und einen freien Staat wollen, intern arbeiten sie sehr stark mit religiöser Rhetorik“, sagt Weissenburger im Gespräch mit dem KURIER. Auch alle anderen Konfliktparteien würden vom Krieg, der seit 2014 in vollem Gange ist, aber seit Jahrzehnten schwelt, profitieren: „Es gibt sehr viele Kriegsgewinnler, die der Lösung des Konflikts im Wege stehen – etwa durch Menschen-, Waffen-, Hilfsgüterschmuggel.“
Diese Praxis hat ihren Ursprung in der Geschichte des Jemen: Vom zehnten Jahrhundert nach Christus bis 1962 war der Jemen ein Königtum. Die schiitische Elite der Zaiditen herrschte in einem Imam-System – dieser Imam musste ein Nachkomme des Propheten sein. Als Imam Ahmad bin Yahya 1962 starb und von seinem Sohn beerbet werden sollte, putschten sunnitische Offiziere mit Unterstützung des damals mächtigen Ägypten.
Ab diesem Zeitpunkt versuchte die neu geschaffene Republik, den Zaidismus zurückzudrängen. „Man hat damals versucht, einen ’nichtsektiererischen Islam’ einzuführen, der keiner wirklichen Schule angehört, aber eigentlich sunnitisch war. Die staatliche Ausbildung war sunnitisch“, sagt Weissenburger. Ab den späten 80ern hat sich eine zaiditische Gegenbewegung gebildet, in der sich vor allem Hussein Badreddin al-Houthi engagierte.
Salafismus gegen Schia
Währenddessen konnten sich jedoch auch salafistische Strömungen aus Saudi-Arabien im Jemen festsetzen. Dies schuf den Zündstoff für den heutigen Konflikt. Denn die Zaiditen wurden über die Jahrzehnte immer mehr unterdrückt; Schulbücher wurden neu gedruckt, um die alten Traditionen vergessen zu machen. „Da haben sich Spannungen aufgebaut – die Zaiditen auf der einen, die Salafisten auf der anderen Seite“, analysiert Weissenburger. Al-Houthi baute sich – nachdem er für einige Jahre im Sudan untergetaucht war – eine karitative Organisation auf, durch die er weitere Sympathien gewinnen konnte. „Die Houthis waren keine der großen Familien, eher Parvenüs, aber in der lokalen Bevölkerung durchaus angesehen“, erklärt Weissenburger.
2004 begehrten die Huthis gegen die mehrheitlich sunnitische Regierung auf, al-Houthi wurde getötet und erlangte Märtyrerstatus. Fünf weitere Kriege sollten folgen, ehe Langzeitdiktator Ali Abdullah Saleh im Zuge des Arabischen Frühlings 2012 abdanken musste. (Er wurde 2017 von den Huthis getötet, nachdem er ein überraschendes Bündnis mit ihnen wieder aufgekündigt hatte.)
Nach der Rebellion entstand ein Machtvakuum, das die Rebellen ein Jahr später nutzten. Sie starteten eine Großoffensive – im September 2014 nahmen sie die Hauptstadt Sanaa ein, der Übergangspräsident Abed Rabbo Mansur Hadi flüchtete aus dem Land, ist jedoch nach wie vor anerkanntes Staatsoberhaupt. Weissenberger: „Der Vormarsch der Houthis hat vor allem funktioniert, weil sie sich als unkompromittierte Partei darstellen konnten.“
Kein Gut, kein Böse
Als die Houthis zügig in Richtung Aden, der zweitgrößten Stadt des Jemen, vorrückten, griff 2015 Saudi-Arabien ein und begann mit massiven Luftschlägen, die international für Empörung sorgten. Weissenburger mahnt zur Objektivität: „Es sind nicht nur die Saudis, die Verbrechen verüben. Die Huthis bombardieren zwar nicht im selben Maßstab, haben aber ebenso Gefängnisse, wo gefoltert wird. Es gibt in diesem Konflikt kein Schwarz und Weiß.“
Neben dem regionalen Konflikt liegt nahe, dass im Jemen Saudi-Arabien und der Iran einen Stellvertreterkrieg unter sich austragen: Die saudische Führung will auf keinen Fall eine neue Hisbollah an ihren Südgrenzen, Teheran als Verbündete der Huthis wollen eben dadurch ihre Macht in der Region erhöhen.
Kommentare