Der Bataclan-Prozess als Pageturner
8. September 2021. Die Pariser Île de la Cité, wo sich der Justizpalast befindet, steht unter massivem Polizeischutz. Mehrere Hundert Personen passieren zum ersten von vielen Malen die Sicherheitsschleusen. Unter ihnen der Schriftsteller Emmanuel Carrère, der diesen neun Monate dauernden Prozess begleiten wird. „Zwischen dem Moment, da wir diesen Gerichtssaal betreten, und dem, da wir ihn verlassen werden, wird sich irgendetwas in uns allen verändern.“
Freitag, der 13. November (französisch „Vendredi 13“) 2015, das war der Tag des Blutbades. Die Anschläge begannen mit drei Selbstmordattentätern, die sich vor dem Stade de France in die Luft sprengten. Sie waren zu spät gekommen, um sich noch ins Länderspiel einzuschleusen. Kurze Zeit danach überfielen Terroristen die Konzerthalle Bataclan sowie mehrere umliegende Lokale. Sie ermordeten 130 Menschen, verletzten weitere 700. In Frankreich rief man den Ausnahmezustand aus, er blieb zwei Jahre lang verhängt. Das Bild des Landes und der Gesellschaft veränderte sich. Frankreich war traumatisiert. Der Prozess um die Attentate, in Anspielung auf das Datum und den Wochentag „V13“ genannt, bearbeitete dieses Trauma einer erschütterten Gesellschaft.
Der Autor Emmanuel Carrère besuchte den Prozess Tag für Tag, schrieb wöchentlich eine Kolumne für den Nouvel Observateur, berichtete über die Anhörung der Opfer, das Verhör der Angeklagten, die Rekonstruktion der Fakten. Warum? Er wollte wissen: „Wo beginnt der Wahnsinn, wenn es um Gott geht? Was geht im Kopf dieser Typen vor?“ Man wird es lesen. Es stößt an die Grenzen des Erträglichen. Das betrifft auch die Berichte der extremen Todes- und Lebenserfahrungen von Hunderten Menschen, die die Nacht vom 13. November 2015 erlebt und überlebt haben oder diejenigen überlebt haben, die sie liebten.
Ein Haupttäter und 19 weitere Personen mussten sich verantworten, elf davon befanden sich in Frankreich in Untersuchungshaft, unter ihnen auch Salah Abdeslam, der Hauptangeklagte, dessen Bruder sich vor dem Café Le Comptoir Voltaire in die Luft gesprengt hatte. Warum Abdeslam das nicht getan hatte, war unter anderem Gegenstand des Prozesses, an dessen Ende er zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Carrère ist um Sachlichkeit bemüht. Das kann auch irritieren. Nachdem die Rede davon war, dass die Opfer bald zu Wort kommen sollten, fragt Salah Abdeslam, ob man denn auch jene zu Wort kommen lassen wolle, auf die im Irak und in Syrien Bomben geworfen würden. „Abdeslams Ausfall wurde allgemein als Provokation gewertet, trotzdem gab mir das Argument zu denken.“ Verteidigung durch Gegenanklage?
Dem gegenüber stehen die erschütternden Aussagen der Opfer. „Ich wusste nicht, dass ein Mensch sich so verzweifelt und einsam fühlen kann“, sagt eine zum Zeitpunkt des Attentats 27-jährige Frau, deren Mann erschossen und die selbst schwer verletzt wurde. Sechs Jahre später ist ihr Leben immer noch geprägt von der „Angst, alles zu verlieren“. Da sind die Geschwister Alice und Aristide, einst Trapezkünstlerin und Rugbyspieler, heute beide schwer behindert. Da ist Nadia, deren Tochter Lamia erschossen wurde. „Sich vorzustellen, dass diejenigen, die sie getötet haben, so alt waren wie sie. Dass auch sie früher an der Hand in die Schule gebracht wurden, so wie früher Lamia. Sie alle waren einmal kleine Kinder, die jemand an der Hand geführt hat.“
Gegen Ende zitiert Carrère aus Truman Capotes Tatsachenroman „Kaltblütig“, der von der Ermordung einer Familie erzählt. Durch die Beschreibung der Lebensläufe der Mörder liefert Capote einen Hintergrund für die Tat. Auch Carrère versucht das. Ein sehr ideologischer Zugang: Der Täter, auch nur ein Mensch. In diesem Fall besonders schwer zu verdauen. Das Gros der französischen Kritiker hat ihm das als Akt der Menschlichkeit ausgelegt, er wurde mehrfach ausgezeichnet.
Was diese Reportage jedenfalls ist: Ein bemerkenswertes Stück Literatur. So packend geschrieben, dass man vergessen möchte, dass all das wahr ist. Wenn eine Überlebende von dem erzählt, was man „manchmal leichtfertig Totenstille nennt, nur dass es diesmal wirklich die Stille von Toten war.“