Mehr als eine Minute Trauer

Die Schulen in Frankreich haben am Montag wieder geöffnet. Viele Eltern waren extrem besorgt um die Sicherheit ihrer Kinder.
Eltern sorgen sich, ihre Kinder in Paris wieder die Schule zu schicken.

Montagfrüh sind die Pariser wieder auf dem Weg zur Arbeit. Die U-Bahnen sind voll, die Leute haben ihre Croissants und ihre Zeitungen heute schon ein bisschen früher als sonst besorgt. Ein Zeichen von Nervosität?

Um sieben Uhr haben die Zeitungshändler einen großen Teil der Tageszeitungen verkauft. Besonders dick sind sie heute. Selbst die Gratiszeitung 20 Minutes, die vor den Metro-Stationen aufliegt, hat nur ein Thema. "Pourquoi?"– "Warum?" titelt sie.

Vor den Schulen sieht man Eltern mit ihren Kindern an der Hand. Auf den ersten Blick wirkt alles wie immer. Spiderman-Rucksäcke, Tretroller, Jausensackerln. Lachen, Quengeln, gestresste Väter und Mütter. Ein Vater streicht seinem Kind über den Kopf und sagt leise: "Ich hol dich um viertel fünf ab."

Der Abschied fällt vielen an diesem Montagvormittag besonders schwer. Am Wochenende gab es in den sozialen Medien Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Schulen wieder öffnen sollen. "Geht in die Schule, das ist die größte Ehre, die ihr den Opfern machen könnt", hielt man den Zauderern auf Twitter (hashtag "#FermeturesdesEcolesLundi") entgegen. Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem ermutigte Eltern dazu, ihre Kinder zur Schule zu begleiten.

Kaufhäuser öffnen wieder

Die großen Kaufhäuser sperren wieder auf, auch viele Museen. Der Louvre, vor dem sich an normalen Tagen schon um sieben Uhr Früh die Touristen drängen, öffnet um 13 Uhr wieder. Jetzt ist der Platz vor der berühmen Glaspyramide noch leer, bis auf die schwer bewaffneten Polizisten, die davor patrouillieren.

Das Leben geht weiter, ja, es muss. Doch von Normalität kann keine Rede sein. Wie angespannt diese Stadt ist, hat man Sonntagabend gesehen. Beim Gottesdienst in der Notre-Dame-Kirche, wo der Erzbischof in Anwesenheit vieler Regierungsmitglieder, auch des Präsidenten, eine Messe las, war großes Polizeigroßaufgebot. Die Menschen drängten sich vor der Kathedrale, als plötzliche Unruhe durch die Reihen drang. Man wusste nur: Hier stimmt etwas nicht. Zeitgleich kam es an anderen Orten der Stadt zu Tumulten. Schweizerkracher nahe der Place de la République hatten Angst und Panik ausgelöst. Menschen mit schreckensweißen Gesichtern rannten durch die Straßen, versteckten sich in Hauseingängen.

Zähne zusammenbeißen

Als hätte jemand die "Pause"-Taste gedrückt, so wirkte das Leben der Pariser in den vergangenen Tagen. Jetzt beißen die Menschen hier die Zähne zusammen. Doch zurück zur Tagesordnung zu gehen, fällt schwer.

Nach und nach werden Namen der Opfer bekannt. Die Gesichter der jungen Ermordeten laufen über die Fernsehbildschirme. Man nennt sie seit diesem Wochenende "La Géneration Bataclan" – so titelt heute etwa die Zeitung Libération. Tenor: Die Terroristen hätten eben genau dieses junge, urbane, kosmopolitische Leben im Visier gehabt, für das etwa der Konzertsaal Bataclan steht, wo am Freitag mehr als 90 Menschen ermordet und unzählige schwer verletzt wurden.

Das Lichter- und Blumenmeer vor der Place de la République und den Tatorten ist über Nacht angeschwollen. Journalisten und Kameraleute aus der ganzen Welt sind hier, Übertragungswagen säumen den Platz.

"Ich war schon bei Charlie hier", sagt Brigitte, eine pensionierte Universitätsprofessorin. "Ich dachte, dass Charlie ein einzigartiger Moment war. Nie hätte ich geglaubt, dass wir so etwas noch einmal erleben müssen. Ich weiß nicht, wie es mit unserem Land, mit unserer Welt weitergeht." Brigitte bezeichnet sich als "Altachtundsechzigerin". Dass Frankreich weiter Luftanschläge gegen Syrien fliegt, hält sie für alternativlos. "Ich war immer Pazifistin, doch ich glaube, wir haben keine Wahl. Wir werden nicht klein beigeben."

Nicht klein beigeben – das spürt man stark in dieser Stadt. Die Menschen sind erschüttert, aber bleiben aufrecht.

Die Rue D’Alibert vor dem Petit Cambodge, wo am Freitag Dutzende ermordet wurden, ist normalerweise eine laute Gegend. Jetzt ist es ganz ruhig hier, das Ausgehviertel gleicht einem Friedhof. Die Kerzen, Blumen, Trauerbekundungen werden immer mehr.

In der Nähe ist eine Schule, die Premierminister Manuel Valls und Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem am Montagvormittag besuchen. Nicht alle Eltern sind begeistert von der Schweigeminute, die Punkt zwölf hier und in ganz Frankreich abgehalten wird. Psychologen sind vor Ort, aber, fragen sich viele: Schaffen es die Lehrer, unseren Kindern diesen Schrecken zu erklären?

Auf den Bahnhöfen, in den U-Bahnen, allen öffentlichen Plätzen haben sich Menschen versammelt. Die Glocken von Notre Dame schlagen. Vor den Schauplätzen der Attentate ebenso wie im Hof der Sorbonne gedenken Hunderte, vor allem junge Menschen der Opfer. Präsident François Hollande und einige Regierungsmitglieder sind unter ihnen.

"Spielt Musik, Paris ist immer ein Fest"

Zögerlich setzt sich danach das Leben wieder in Gang. Das Schweigen ist aber nicht die einzige Antwort der Pariser. Viele Junge wollen nicht zulassen, dass ihre Stadt zur Geisterstadt wird. Für Montagabend haben sie in sozialen Medien zur Party aufgerufen. "Heute Abend keine Sirenen, kein Schweigen. Öffnet eure Fenster, spielt Musik, so laut ihr könnt! Paris ist immer ein Fest!"

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