Das Ende der UdSSR: Fehlende Glühbirnen und skurrile Tauschgeschäfte
von Jana Patsch
"Russland hungert", titelte die Weltpresse ab 1990 regelmäßig. Mit Russland war damit die Sowjetunion gemeint. Der größte Staat der Welt befand sich im Zerfall, die Planwirtschaft war pleite, der Rubel hatte jeden Wert verloren, Disziplin und Moral wurden zu Fremdwörtern. Besonders gefährdet war die Ukraine, der einstigen Kornkammer Europas drohte eine Hungerkatastrophe. Der Westen fürchtete schon damals eine Flüchtlingswelle.
"Dort ist nichts"
Spontan startete ich Anfang 1992 eine Mini-Hilfsaktion. Mit Medikamenten, Packerlsuppen, Kaffee und Hygieneartikeln im Gepäck, brach ich in einem Renault 5, der bis auf den Fahrersitz vollgestopft war, Richtung Osten auf. An der letzten slowakischen Tankstelle ignorierte ich die dringende Warnung des Tankwarts – "Fahren Sie nicht weiter, dort ist nichts!" – und pferchte noch einen Benzinkanister mit Mühe in den Kofferraum hinein.
An der Grenze zur UdSSR, rund 600 km von Wien entfernt, der erste Eindruck: Den Eisernen Vorhang hatte es nicht nur zum bösen imperialistischen Westen gegeben, sondern auch zu den benachbarten sozialistischen Bruderländern – mit Wachtürmen, elektrischen Zäunen, Minenfeldern.
Der erste ukrainische Zöllner zeigte sich angesichts der Menge mitgeführter Waren überfordert und schickte mich zum Kollegen, der für die Lkw-Abfertigung zuständig war. Nach viel Zureden und kleiner Bestechung mit Aspirin und Hustenbonbons ließ er mich passieren, mit einer Bitte: "Die Sachen nicht in einem Krankenhaus abgeben. Dort werden sie sofort gestohlen. Geben Sie es dem griechisch-katholischen Bischof. Der hat gerade seine Kirche zurückbekommen und muss nicht mehr als Busfahrer arbeiten."
Glühbirne to go
Auf vereisten Straßen voller Schlaglöcher erreichte ich den westlichsten Zipfel der Ukraine, Uschgorod. In der 100.000-Einwohnerstadt war die Fernheizung ausgefallen. Das Zierbecken in der Eingangshalle der Universität war eingefroren. Professoren und Studenten zogen in der Vorlesung nur die Handschuhe aus, saßen in Jacken und mit Haube im Hörsaal. Das wohl begehrteste Mitbringsel wären Glühbirnen gewesen, aber das erfuhr ich erst jetzt. In allen öffentlichen Gebäuden, selbst im Spital, baumelten nur leere Fassungen von der Decke, der Inhalt: gestohlen. Der Oberarzt trug immer eine Glühbirne bei sich und schraubte sie nur dort ein, dort wo er gerade ordiniert.
Im Schuhgeschäft im Zentrum der Stadt zierten mitten im Winter zwei Paar Gummistiefel und weiße Damensandalen die leeren Regale. Der Asparagus im Topf, als Dekoration gedacht, war eingefroren. Auch die Regale in den meisten anderen Läden waren leer. Das Angebot an Grundnahrungsmitteln war dürftig. Wer im Sommer nicht eingelagert hatte, musste im Winter fasten. Die Beeren, die Pilze, das Obst und Gemüse von Verwandten auf dem Land wurde tonnenweise eingekocht, oder getrocknet. Kleingartenbesitzer waren diejenigen die Profiteure der Krise: Sie deckten in diesen ersten Tagen nach dem Tod der Sowjetunion die Hälfte des gesamten Bedarfes des Landes ab.
Wertlose Scheine
Am 10. Jänner 1992 hat jeder Ukrainer 200 Coupons erhalten. Karbowanzi hießen sie. Ein Hendl am Markt kostete 100 davon. Die Übergangswährung sah aus wie Spielgeld bei Monopoly: keine Seriennummer. Millionen davon hat man in Frankreich drucken lassen – die galoppierende Inflation machte sie jeden Tag wertloser.
"Tausche Klavier gegen Kuh – bitte keine Geldangebote", so lautete eine Anzeige in einer Lokalzeitung. Tauschgeschäfte hielten das Wirtschaftsleben in der Ex-Sowjetunion am Leben. Brauchte man Ziegel, montierte man einfach einen Heizkörper in einem öffentlichen Gebäude ab – und tauscht ihn gegen Baumaterial.
Das galt nicht nur im Privatbereich: Ganze Industriezweige wickelten ihre Produktion nur im Gegengeschäft ab. Sogar die betriebseigenen Kantinen wurden nur im Tausch mit Lebensmitteln beliefert. Daneben gab es natürlich kleine Schmuggler, die Wodka, Ketten oder Kübel auf den Baumärkten in Polen, der Slowakei oder Ungarn gegen Jeans oder Billigware vom Wiener Mexikoplatz tauschten.
Überlebenskünstler
Es war eine eigene Kunst des Überlebens – und die Antwort auf die Frage westlicher Beobachter, wieso sich die Ukrainer trotz Mangels und horrender Preisen noch relativ gut kleiden konnten und keine Hungerrevolten ausbrechen.
Die sagenhafte Leidensfähigkeit der Menschen dort wird bis heute strapaziert, aber auch ihre Fähigkeit zur Improvisation: Mit Schwarzarbeit im Ausland (der Osten der Ukraine arbeitet in Russland, die Westukraine in Polen oder Österreich) halten sich viele Familien über Wasser. Die Einwohnerzahl ist in 30 Jahren um zehn Millionen geschrumpft. Korrupte Politiker, skrupellose Oligarchen plündern das Land. Die bewaffnete Auseinandersetzung im Osten kostet viel Geld. Die Ukraine kommt nicht auf die Füße. Sie bleibt nach Moldau das zweitärmste Land Europas.
Die gebürtige Pressburgerin Jana Patsch hat 40 Jahre lang für den KURIER aus Osteuropa berichtet. Sie bereiste für Reportagen die entlegensten Gegenden der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten. Das alltägliche Leben der Menschen stand bei ihr im Fokus.
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