Auch das wirtschaftliche Argument liegt auf der Hand: Mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts hängt von gut funktionierenden Biodiversitäts- und Ökosystemen ab.
Europa wird demnächst einen Rechtsrahmen für die Wiederherstellung gesunder Ökosysteme vorlegen. Wir wollen hier in Europa mindestens 30 % der Land- und Meeresflächen schützen. Und wir wollen in dieser Frage auf dem UN-Biodiversitätsgipfel in Kunming vermitteln, um diese Ziele auch auf globaler Ebene voranzubringen. Wir brauchen einen neuen Deal für die Natur.
Die EU hat hat sich darauf geeinigt, in den nächsten zehn Jahren die Treibhausgase um 55 Prozent (Niveau 1990) zu senken. Ist dieses Ziel nicht völlig illusorisch?
Es ist realistisch und machbar. Bis Juni wollen wir Rechtsakte vorschlagen, um die Vorgabe umzusetzen. Darunter fallen zum Beispiel die Überarbeitung und Ausweitung des EU-Emissionshandelssystems, eine Anpassung des Rahmens für Emissionen aus der Landnutzung, weitere Maßnahmen in den Bereichen Energieeffizienz und erneuerbare Energien sowie die Verschärfung der CO2-Normen für Straßenfahrzeuge.
Und wo steht da Österreich?
Österreichs ehrgeizges Ziel, bis 2040 klimaneutral zu werden, ist sehr vielversprechend. Natürlich es gibt noch viel zu tun. In seinem nationalen Energie- und Klimaplan hat sich Österreich verpflichtet, die Treibhausgasemissionen außerhalb des Emissionshandelssystems – z. B. Emissionen aus Verkehr, Gebäuden, Landwirtschaft und Abfall – bis 2030 um 36 % gegenüber dem Niveau von 2005 zu senken.
Mit den im Plan enthaltenen Maßnahmen würde Österreich dieses Ziel um 9 Prozentpunkte verfehlen. Und wir sollten nicht vergessen, dass wir im Dezember das CO2-Reduktionsziel für 2030 von 40 auf 55 Prozent erhöht haben. Es sind also in allen EU-Ländern weitere Maßnahmen notwendig.
Ich arbeite eng mit Klimaschutzministerin Leonore Gewessler zusammen, um Österreich bei der Erreichung der jetzt auch im Koalitionsvertrag festgeschriebenen vorbildlichen Klimaziele nach Kräften zu unterstützen.
Werden Sie als Umweltkommissar mit Ihrer Sorge um den Klimawandel ernst genommen? Oder ist es der Kommission momentan wichtiger, die europäische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen?
Präsidentin von der Leyen hat stets deutlich gemacht, dass der Grüne Deal trotz der Coronakrise oberste Priorität hat. Aus Sicht der Kommission gibt es bei Umwelt und Wirtschaft kein Entweder-oder. Der Grüne Deal ist gleichzeitig unsere Wachstums- und Beschäftigungsstrategie. Der Aufschwung muss ökologisch und nachhaltig erfolgen.
Wir wissen, dass erneuerbare Energien heutzutage zu fossilen Brennstoffen konkurrenzfähig und oftmals auch billiger sind. Uns ist klar, dass das Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren von den Treibhausgasemissionen in der EU abgekoppelt war. Und wir wissen auch, dass die Kreislaufwirtschaft Wachstum und Arbeitsplätze schafft und Investitionen anzieht.
Wird es in Europa bald einen gemeinsamen Co2-Preis geben?
Die Kommission sieht in der Ausweitung des Emissionshandels in der EU große Vorteile, um das CO2-Reduktionsziel von 55 Prozent zu erreichen. Es könnten auch Emissionen aus dem Straßenverkehr und aus Gebäuden einbezogen werden. Schon jetzt deckt das EU-Emissionshandelssystem direkt oder indirekt etwa 30 Prozent der Emissionen aus der Gebäudeheizung ab.
Würden alle Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe erfasst, hätte dies erhebliche Vorteile für die Wirksamkeit und die administrative Durchführbarkeit. Deshalb möchten wir diesen integrierten Ansatz in unseren Gesetzgebungsvorschlag aufnehmen. Der soll bis Juni 2022 vorliegen.
Auch die Energiebesteuerungsrichtlinie soll überarbeitet werden. Derzeit gibt es zahlreiche sektorale Steuerbefreiungen und -Ermäßigungen – das ist mit den Zielen des europäischen Grünen Deals nicht vereinbar. Wir möchten dazu bis Juni dieses Jahres eine Gesetzesinitiative vorschlagen.
Welches Ihrer Ziele wird sich am leichtesten, welches am schwersten durchsetzen lassen?
Zu meinen Zielen gehört, das Artensterben aufzuhalten, die Natur zu schützen, die Null-Schadstoff-Ziele zu erreichen und eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Wäre das einfach, wären wir schon längst dort.
Im Kampf gegen den Klimawandel, das Artensterben und die Verschwendung von Rohstoffen sind wir darauf angewiesen, dass alle Länder weltweit an einem Strang ziehen. Wir haben gesehen, wie schwierig es war, ein globales Klimaschutzübereinkommen zu erreichen.
Bei der Artenvielfalt ist es auch alles andere als einfach: Wir haben vor zehn Jahren in Nagoya ein weltweites Abkommen geschlossen, aber niemand, auch nicht die EU, hat die vereinbarten Ziele erreicht.
Alle meine Prioritäten sind also schwierig umzusetzen. Aber ich stelle mich der Herausforderung.
Was sind die nächsten SchrItte für den Green Deal?
Wir legen zum Beispiel das Paket „Fit für 55“ vor: Es wird insbesondere die nötigen Maßnahmen enthalten, um eine CO2-Reduktion von 55 Prozent bis 2030 zu erreichen. Zudem werden wir heuer an einem Null-Schadstoff-Aktionsplan arbeiten, um die Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft zu stoppen.
Weiters sind u.a. eine Initiative für nachhaltigere Produkte und eine EU-Waldstrategie geplant. Aber auch viele andere Sektoren spielen in den Grünen Deal hinein, etwa die Landwirtschaft – hier machen wir neue Vorschläge für den Bio-Landbau und die Dekarbonisierung der Lebensmittelkette – oder der Verkehrssektor, für den wir strengere Luftverschmutzungsnormen für Verbrennungsmotoren vorschlagen.
Ist Europas neue Agrarpolitik denn ein gutes Beispiel dafür, wie Europa grüner werden kann?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die neue Agrarpolitik die Nachhaltigkeit fördern und die Anstrengungen der europäischen Landwirtschaft im Klima- und Umweltschutz unterstützen sollte.
Das Artensterben und extreme Wetterereignisse wirken sich negativ auf die Lebensgrundlage der Landwirte aus, deshalb handelt es sich um eine Win-Win-Strategie.
Die Kommission unterstützt die Mitgliedstaaten gerade dabei, Strategiepläne für die Umsetzung der gemeinsamen Agrarpolitik auszuarbeiten. Sie wird die Situation in jedem Land analysieren und Empfehlungen abgeben, die auch die Ziele des Grünen Deals berücksichtigen.
Kommissar Sinkevicius – 2050, wenn die EU klimaneutral sein soll, sind Sie erst 60 Jahre alt. Sie werden also sehen, ob der Green Deal gewirkt hat oder nicht. Als Politiker und Privatperson sind Sie mitverantwortlIch – was also tun Sie für ein grüneres Europa?
Das fühlt sich zwar noch weit entfernt an, aber natürlich möchte ich, dass meine Kinder und Enkelkinder in der besten Welt leben können. Ich achte auf meinen ökologischen Fußabdruck und mein Konsumverhalten. Meine Familie hat Einwegplastik schon lange abgeschafft. In lege zunehmend Wert auf die Nachhaltigkeit der Produkte, die ich kaufe.
In meiner politischen Arbeit strebe ich nach den notwendigen großen Veränderungen. Aber die kleinen Schritte, die jeder von uns setzen kann, sind genauso wichtig. Denn in Summe werden alle diese kleinen Schritte zu einem sehr großen Wurf.
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